Strafverteidiger Hans Holtermann fordert einen Freispruch. Zwar habe Oskar Gröning auf der Zugrampe von Auschwitz-Birkenau das Raubgut bewacht. Mit dem Heraustreiben der Menschen aus den Waggons habe der Mandant aber nichts zu tun gehabt. Die Opfer auszuplündern, das sei allenfalls ein Nebeneffekt, nicht die eigentliche Absicht der Mordaktion gewesen.
"Herr Gröning hatte eine ganz besondere Aufgabe: Er sollte ausschließlich aufpassen und verhindern, dass aus dem Gepäck etwas gestohlen wird. Er war gerade nicht dafür zuständig, das Verladen des Gepäcks zu beaufsichtigen, die Häftlinge anzutreiben, die dafür zuständig waren, oder dafür zu sorgen, dass die Rampe geräumt wird. Und da sind wir der Auffassung, dass das eben keine Förderung des Massenmordes in Auschwitz gewesen ist."
In seinen Einlassungen vor Gericht hatte sich Gröning zu seiner Tätigkeit in der Mordfabrik Auschwitz bekannt, auch eine moralische Mitschuld eingeräumt, jedoch jegliche strafrechtliche Verantwortung zurückgewiesen. "Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte", sagt der Greis in seinem Schlusswort. "Ich bereue aufrichtig, dass ich diese Erkenntnis nicht viel früher und konsequenter umgesetzt habe", fügt er mit brüchiger Stimme hinzu.
"Ich habe das Gefühl, dass das Leid der Opfer ihn durchaus erreicht hat. Gröning ist aber auch ein Mensch, der in seiner eigenen sozialen Welt lebt", sagt Thomas Walther, der in Lüneburg 51 Nebenkläger, Überlebende und deren Angehörige vertritt. Gröning habe sich trotz seines hohen Alters dem Verfahren gestellt, dafür gebühre ihm Respekt.
Staatsanwaltschaft fordert dreieinhalb Jahre Gefängnis
Staatsanwalt Jens Lehmann hatte für den 94-jährigen Angeklagten eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren gefordert. Als Mitglied der sogenannten Häftlingsgeldverwaltung habe Gröning an der "reibungslosen Abwicklung" der so genannten "Ungarn-Aktion" mitgewirkt. Dabei waren im Frühjahr und Sommer 1944 binnen weniger Wochen mindestens 300.000 ungarische Juden in die Gaskammern getrieben und ermordet worden. Die Staatsanwaltschaft regt an, einen beträchtlichen Teil der Strafe als verbüßt zu betrachten, weil ein früheres Ermittlungsverfahren gegen Gröning viel zu lange dauerte.
Tatsächlich brauchten Gehilfen wie Gröning jahrzehntelang keine Nachforschungen fürchten. Nach herrschender Rechtsauffassung konnte kein NS-Verbrecher verurteilt werden, wenn ihm nicht eine persönliche Beteiligung an konkreten Mordtaten nachzuweisen war. Von einem abgrundtiefen Versagen der deutschen Justiz sprechen Nebenklage-Vertreter wie der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler. "Dass im Jahr 2014 ein Staatsanwalt einmal das Richtige gemacht hat, entlastet insbesondere nicht die Frankfurter Staatsanwaltschaft, die noch im Jahr 2013 mit diesem Verfahren nichts zu tun haben wollte."
Dass Oskar Gröning und viele andere nach dem Krieg so einfach davon kamen, erträgt Irene Weiss nur schwer. Sie ist eine der weit gereisten Überlebenden, die im Zeugenstand gegen den früheren SS-Mann Gröning aussagten. Der alte Mann werde wohl nicht einen Tag im Gefängnis verbringen, vermutet die 84-Jährige, die heute in den Vereinigten Staaten lebt. Von Auschwitz gibt es keine Befreiung. Kein Strafmaß, keine Reue könnten daran etwas ändern. "Wenn Gröning seine Uniform tragen würde, es würde mir noch heute einen Schauer über den Rücken jagen. Ich will, dass er versteht, was er uns angetan hat. Dafür ist es nie zu spät!"
Das Urteil will die Kammer heute verkünden.