Vor dem Eingang zum Konzentrationslager Auschwitz I, dem sogenannten Stammlager. Es schneit, der Boden ist matschig. Der polnische Fremdenführer spricht zu einer Delegation aus Schülerinnen und Schülern, angeführt von Sylvia Löhrmann.
Die Ministerin fährt jedes Jahr mit einer Gruppe von Schülern zur Gedenkstätte Auschwitz, diesmal mit einer Oberstufe aus Kevelaer. In diesem Jahr ist aber auch zum ersten Mal eine Gruppe jüdischer Jugendlicher aus NRW dabei. Lionel Reich, 17 Jahre, ist zum ersten Mal hier.
"Man hat die Geschichtsbücher, sieht Bilder, aber konkret vor Ort zu sein und zu wissen, dass hier eine Million Menschen umgebracht worden sind, ist natürlich was ganz anderes. Man hat die Sachen vor Augen, wie es vor 70 Jahren passiert ist, und das ist ne unbeschreibliche Situation."
Reichs Großvater war in Auschwitz und überlebte, andere Mitglieder seiner Familie nicht – ihm ist das Thema Erinnern an den Holocaust wichtig, auch und gerade für Schüler.
"Ein perfektes Beispiel, was das Land NRW hoffentlich anstreben wird, ist: Schulen zu zwingen, ab der Oberstufe mit Kursen Auschwitz zu besuchen, weil ich denke, man hört zwar immer wieder, unsere Generation ist vollgepackt mit Auschwitz-Wissen, aber wenn ich jetzt hier stehe, merke ich eigentlich, wie wenig ich weiß."
In einem der Backsteingebäude blicken die Schülerinnen und Schüler auf etwa zwei Tonnen grauer, verfilzter Haare, die hinter einer rund zehn Meter langen Glaswand ausliegen. Die Gefangenen des Lagers wurden vor ihrem Tod kahl geschoren, das Haar zum Teil verkauft. Die meisten Schüler holen tief Luft. Einer schüttelt nur irritiert den Kopf. Die Geschichte ist bekannt, aber das hier, das ist trotzdem anders, sagt eine Schülerin aus Düsseldorf:
"Also im Geschichtsunterricht macht man das alles sehr theoretisch, dann und dann ist das passiert. Aber das Ganze zu sehen, diese Bilder, und diese ganzen Sachen. Ich finde, dass so etwas nicht vergessen werden darf."
Kurz danach erreicht die Gruppe die Todeswand, dort wurden Häftlinge erschossen. Zusammen mit zwei jüdischen und zwei nicht-jüdischen Schülern legt die Ministerin einen Kranz nieder. Ein paar der Anwesenden halten sich an den Armen, eine Schülerin beginnt zu weinen.
Am Abend geht es in ein katholisches Begegnungszentrum ganz in der Nähe. Dort diskutieren die Oberstufenschüler aus Kevelaer mit ihren Lehrern und Ministerin Löhrmann über die Erlebnisse des Tages – und über grundsätzliche Themen wie Schuld und Verantwortung.
- "Aber du sagtest jetzt gerade, dass wir da gar nicht mehr verantwortlich, also dass wir das nicht machen sollten, weil wir genügend Sachen in Deutschland haben."
- "Ja, ok, dann müssen wir aber ..."
- "Ja! Dann musst du auch drüber nachdenken."
- "Ich finde, es ist anders, Deutscher zu sein, als Italiener oder Franzose."
- "Ja, ok, dann müssen wir aber ..."
- "Ja! Dann musst du auch drüber nachdenken."
- "Ich finde, es ist anders, Deutscher zu sein, als Italiener oder Franzose."
Auch aktuelle Themen kommen auf den Tisch – etwa Pegida:
"Ich finde, gerade wir Deutschen sollten uns dafür einsetzen, dass Ausgrenzung einer Volksgruppe nie wieder geschieht. Dass wir uns wirklich dafür einsetzen, dass wir die Muslime nicht über einen Kamm scheren. Wenn man die Geschichte, sich nicht dafür interessiert, und wenn man sie vergisst, dann ist man dazu verdammt, sie immer und immer wieder neu zu erleben."
Die Schülerinnen und Schüler stellen den Bezug zu Pegida selber her, verbinden also Geschichte mit Gegenwart und ziehen Konsequenzen daraus für die Zukunft und für ihr eigenes Leben - wie Marie Kassing, 17 Jahre:
"Wir haben keine Schuld. Aber wir haben die Verantwortung. Die ganzen Dokumente sind auf Deutsch. Da konnte man halt wirklich sehen, Frau Soundso, Gewicht vorher 75 Kilo, Gewicht nachher 25 Kilo. Das ist was, was einem unglaublich unter die Haut geht, weil man sich verantwortlich und damit verbunden fühlt."
In ihrer Zeit als Präsidentin der Kultusministerkonferenz hatte sich Sylvia Löhrmann intensiv für Erinnerungskultur in der schulischen politischen Bildung eingesetzt. Die letzte KMK-Sitzung unter ihrer Leitung beschloss im Dezember Empfehlungen zur Umsetzung in der Schule. Unter anderem zur Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern, wie Museen und Gedenkstätten.
"Es muss gelingen, auch einen emotionalen Zugang zu eröffnen und trotzdem nicht mit erhobenem Zeigefinger zu arbeiten. Das, was wir jetzt in drei Tagen erleben, erfahren, was in uns eindringt, das ist mehr an Intensität, als wir im gesamten Geschichtsunterricht haben."
Aber so wichtig ein Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz auch sein mag, er allein kann nicht ausreichen, meint Löhrmann. Politische Bildung könne er nicht ersetzen.