Friedbert Meurer: Die Überlebenden werden reden. Es werden insgesamt immer weniger, die als Opfer von den Schrecken des Vernichtungslagers Auschwitz berichten können. Einer von ihnen heißt Zwi Steinitz. Er ist 1927 geboren, Kind jüdischer Eltern, in Posen geboren, damals unter dem Namen Helmut Steinitz. Als 16- und 17-jähriger Jugendlicher war er im Konzentrationslager Auschwitz interniert, davor auch in anderen Lagern. Kurz vor der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar wurde er auf einen der berüchtigten Todesmärsche geschickt. Monate später wurde er befreit, hat das alles überlebt. Später ist Helmut Steinitz, Zwi Steinitz dann nach Israel gegangen. Gestern hat mir Zwi Steinitz seine Geschichte erzählt als Überlebender von Auschwitz, zunächst auf die Frage, wo er in diesen Tagen denn war vor 70 Jahren in Auschwitz.
Zwi Steinitz: Wir sind zwischen dem 17. Und 18. Von Auschwitz aus in Richtung Gleiwitz getrieben worden. Von dort aus hat man die Häftlinge in verschiedene Konzentrationslager in Deutschland gebracht.
Meurer: Wie haben Sie den Todesmarsch überlebt?
Steinitz: Ja, da haben sich vom Schnee Eisklumpen an die Holzsohlen befestigt, und ich konnte nicht mehr laufen, die waren so schwer, und hatte eine Sehnenverzerrung mit wahnsinnigen Schmerzen. Und trotz aller Warnungen, sich nicht in den Schnee zu setzen, weil man da einschläft, einfriert oder man wird erschossen, habe ich mich hingesetzt, und da kamen zwei Freunde, die mit mir zusammen bei Siemens arbeiteten, vorbei und haben mich aufgehoben, unter die Arme genommen und wir sind dann bis zu einer von Autos befahrenen Landstraße gekommen, und da bin ich dann alleine nach Gleiwitz gelaufen.
Meurer: Am 27. Januar '45 wurde Auschwitz befreit. Es dauerte dann noch einige Wochen, bis Sie im Mai 1945 dann in der Nähe von Schwerin, ich glaube, von den Amerikanern befreit wurden.
Steinitz: Genau.
Meurer: Wie war dieser Tag für Sie?
Steinitz: Ja das war das Überraschende. Wir sind in den Morgenstunden in die Richtung von Schwerin gegangen und kamen an eine kleine Steinbrücke, die über die Stör führte. Und als ich mich der Brücke näherte, kam ein deutscher Panzer aus der Richtung von Schwerin und stellte sich auf der Brücke ab, fragte den Wachmann, den SS-Wachmann, wohin geht ihr. Da zeigt er ihm mit der Hand, wir gehen in Richtung von Schwerin. Da sagte der Soldat, aber in Schwerin sind schon die Amerikaner. Da erwiderte der Wachmann, aber hinter uns sind bereits die Russen. Und dann bildeten sich kleine Gruppen. Ich ging in Richtung von Schwerin und traf nach kurzer Zeit an der linken Seite der Landstraße einen deutschen Militär-LKW an, umzingelt von amerikanischen Soldaten, und die deutschen Soldaten sprangen herunter, übergaben ihre Waffen und standen mit erhobenen Händen. Ich bin dann an ihnen wie bei einem Spaziergang vorbeigegangen. Ich hätte das niemals geglaubt.
Meurer: Sie waren in den Jahren '44 und Anfang '45 im Vernichtungslager Auschwitz. Sie haben als Schlosser gearbeitet. Wie viel haben Sie vom Vernichtungsapparat der Nazis mitbekommen?
Steinitz: Ich bin von Plaszow - ich war vorher im Lager Plaszow, vom Dezember '42 bis Februar '44, und ich habe mich freiwillig als sogenannter Schlosser oder Mechaniker gemeldet, und dann bin ich nach Auschwitz gekommen in das Hauptlager.
"Todesgefahr drohte nicht nur durch das Krematorium"
Meurer: Das hatten Sie nicht gewusst, dass die Reise nach Auschwitz geht?
Steinitz: Nein, nicht! Sonst hätte ich mich nicht gemeldet. Ich wusste nicht genau, was in Auschwitz los ist, aber ich habe mich gemeldet, weil Plaszow in meinen Augen ein schreckliches Lager war.
Meurer: Als Sie dann als Schlosser in Auschwitz gearbeitet haben, haben Sie dann erfahren, was los ist in Auschwitz?
Steinitz: Ich habe vor Ort erfahren, und nicht nur das. Ich habe vor Ort persönlich erfahren in der Schlosserwerkstatt, in die man mich eingeteilt hat; da hat man mich bald totgeschlagen, weil ich nicht in der Lage war, mit einem Hammer glühendes Eisen plattzuschlagen. Also die Todesgefahren drohten nicht nur, ins Krematorium geschickt zu werden durch eine Selektion, aber auch durch die Behandlung. Und außerdem habe ich auch in einem Block gewohnt, in dem lauter Kriminelle waren, und ich war für sie ein leichtes Opfer gewesen und man hat mich dort schikaniert die ganze Zeit. Und wenn ich nicht einen deutsch-jüdischen Häftling getroffen hätte, der auf mich zukam und nach meinem Befinden fragte, dann wäre ich wahrscheinlich nicht hier gesessen.
Meurer: Ihre Zeit als Häftling umfasst so viele Jahre, so viele Stationen, Krakau, Buchenwald, am Schluss Auschwitz. Viele Deutschen haben nach 1945 gesagt, als sie die Bilder sahen, die Filmaufnahmen von Auschwitz, das haben wir nicht gewusst. Was meinen Sie?
Steinitz: Also ich bin der Meinung, dass nicht alle gewusst haben. Aber dass sehr viele gewusst haben und geschwiegen, daran zweifele ich nicht, weil es bekannt ist, dass Soldaten, deutsche Soldaten ihren Familien geschrieben haben, oder ihnen persönlich berichtet haben, was sich in Polen tut. Also ich kann nicht beurteilen, wie viele ja oder nicht gewusst haben. Das kann ich nicht beurteilen.
Meurer: In Ihren Erinnerungen, Herr Steinitz, berichten Sie ja auch von den Fahrten mit den Zügen. Unter unmenschlichen Bedingungen wurden Sie nach dem Januar '45 in die Züge gepfercht, hatten kaum Kleider an, und das mitten im Winter.
Steinitz: Ja.
"Das kann man nur erzählen"
Meurer: Und Sie sagen, die von der Reichsbahn, die müssten es ja alle gewusst haben.
Steinitz: Ja. Ich weiß nicht, was die Menschen gesehen haben. Ich habe niemals irgendwo einen Film, einen historischen Film gesehen, außer den bekannten Fotos, wo man befreite Kinder sieht in Auschwitz. Aber ich habe niemals gesehen, dass man Häftlinge, halbnackte Häftlinge in Buchenwald aufgenommen hat. Was man ja gezeigt hat von Buchenwald, das sind die halbtoten Menschen, wie sie aus den Pritschen schauen. Das habe ich miterlebt, unter ihnen gewohnt, nachdem wir von Auschwitz nach Buchenwald kamen. Aber dass wir halbnackt stundenlang auf Appell standen, zweimal täglich, und das ein furchtbares Leid war, solche Aufnahmen wurden nicht gemacht und nicht gezeigt. Das kann man nur erzählen.
Meurer: Sie sind ja häufig in deutschen Schulen und erzählen. Wie reagieren die Schülerinnen und Schüler, wenn Sie denen das erzählen?
Steinitz: Ja. Ich sage Ihnen ehrlich: Es ist auch für sie wichtig zu wissen. Ich hatte eine wunderbare Kinderstube und vorbildliche Eltern. Ich habe niemals, auch im Moment der Befreiung in Schwerin, niemals Hass und Rachegefühle gehabt, und es war mir immer wichtig, Mensch zu bleiben. Jetzt, jedes Mal, wenn ich vor einer Klasse spreche, sage ich ihnen, ich komme nicht, um Schuldgefühle zu wecken; ich komme, um zu erzählen, damit sich so eine tragische Geschichte niemals wiederholt. Und das hat eine sehr positiven Wirkung auf die Schüler, die ja zum großen Teil schon auf meinen Besuch vorbereitet sind.
Meurer: Viele Deutschen, Herr Steinitz, wollen einen Schlussstrich ziehen, haben wir gerade gestern wieder einer Studie entnommen - fast 60 Prozent. Wenn es keine Überlebenden von Auschwitz irgendwann einmal mehr gibt, so wie Sie einer sind, wird der Holocaust dann nur noch eine Historie sein, Vergangenheit?
Steinitz: Schauen Sie, ich hatte am letzten Freitag ein großes bewegendes Treffen mit Schülern und Erwachsenen und Lehrern in Oranienburg, und ich habe dem Publikum gesagt, dass wir aussterben, sehr schnell, und jemand unser Vermächtnis weiter fördern muss, damit diese Zeit nicht aus dem Gedächtnis verloren geht. Das habe ich diesem Publikum gesagt. Und ich persönlich werde nach Deutschland kommen, solange meine Gesundheit mir das erlaubt, weil ich das als eine heilige Pflicht als Überlebender sehe, im Namen der Menschen zu sprechen, die nicht das Recht hatten zu leben.
Meurer: Zwi Steinitz hat als Jugendlicher das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Heute vor 70 Jahren wurde Auschwitz von der Roten Armee befreit. Herr Steinitz, ich danke Ihnen ganz herzlich für die Zeit, die Sie sich genommen haben, und für den Besuch bei uns im Studio. Danke schön, auf Wiederhören!
Steinitz: Danke und auf Wiederhören!
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