Herr F. ist 69 Jahre alt und liegt im Koma. Er leidet an Prostatakrebs, dadurch ist seine Blutgerinnung gestört. In seinem Gehirn haben sich immer wieder schwere Blutungen gebildet. Herr F. wurde dreimal operiert, jetzt liegt er reglos da und wird künstlich beatmet. Wenn er jemals wieder aufwachen sollte, dann würde er nicht mehr sprechen und sich nicht mehr bewegen können.
Das Schicksal von Herrn F. ist beispielhaft für unsere Zeit. Zwei Drittel aller Menschen sterben heute im Krankenhaus, und ihr Sterben kann fast beliebig lange hinausgezögert werden - das ist der Fluch der modernen Gerätemedizin. Keiner weiß das besser als der Palliativmediziner Ralf Jox. Im ersten Kapitel schreibt er:
Wir stehen also vor der Notwendigkeit, über das Wann und Wie des Sterbens zu entscheiden - und das nicht nur uns selbst, sondern, vielleicht mehr noch, andere betreffend. Dabei ist die Aufgabe nicht nur auf Ärzte oder Mitarbeiter im Gesundheitswesen beschränkt. ( ... ) In solchen Situationen brauchen wir viel Verantwortungsbewusstsein, Einfühlungsvermögen und Entscheidungsstärke.
Ralf Jox entwickelt in seinem Buch "Sterben lassen" ethische Kriterien, nach denen diese Entscheidungen am Sterbebett getroffen werden können. Er gewährt Einblicke in den Alltag auf deutschen Intensivstationen, und zeichnet ein umfassendes Bild der aktuellen rechtlichen Lage, von der Patientenverfügung bis hin zur Suizidbeihilfe.
Die öffentliche Diskussion über das Sterbenlassen krankt seit Jahren an einer übertriebenen Emotionalisierung. Viel zu häufig werden nur Erlebnisse und Einstellungen ausgetauscht, viel zu selten Fakten zur Kenntnis genommen und Argumente abgewogen.
Ralf Jox liefert Fakten und Argumente, basierend auf wissenschaftlichen Studien und seinen eigenen Erfahrungen. Doch Jox' Leitmotiv ist Empathie - und Achtung vor dem Patienten. Denn der sei der wahre Experte für sein Leben, nicht der Arzt. Überhaupt: Ralf Jox zufolge wissen viele Kollegen noch nicht einmal genau über die Prozesse Bescheid, die in einem sterbenden Körper ablaufen.
Dazu kommt eine diffuse Angst vor rechtlichen Konsequenzen. Also würden viele Ärzte ihre Patienten zwanghaft am Leben erhalten. Auch dann, wenn es medizinisch keinen Sinn mehr macht, oder sogar dem Willen des Patienten entgegensteht. Ralf Jox zitiert einen Intensivmediziner, den er im Rahmen einer Studie befragt hat:
"Wir sind so geprimed, dass wir eben alles tun müssen! Und etwas zu unterlassen oder nicht zu machen, das widerspricht einfach unserem ärztlichen Selbstverständnis."
Für den Autor bedeutet ärztliche Fürsorgepflicht, im Sinne des Patienten zu handeln. So müsse ein fürsorglicher Arzt akzeptieren, dass ein Zeuge Jehovas eine Bluttransfusion ablehnt - und deshalb vielleicht sogar stirbt.
Nur: Wer entscheidet, wenn der Patient nicht mehr selbst für sich entscheiden kann? Wenn noch nicht einmal eine schriftliche Patientenverfügung vorliegt?
In der Praxis hat es sich als hilfreich erwiesen, wenn die Entscheidung vom rechtlichen Vertreter des Patienten, anderen Angehörigen und dem ganzen Behandlungsteam gemeinsam getroffen und so die moralische, nicht die rechtliche Verantwortung, auf mehrere Schultern verteilt wird. Dieses "Shared Decision Making" kann erschwerte Trauerverläufe verhindern.
Ralf J. Jox favorisiert dabei das Konzept der Therapiezieländerung. Wenn das ursprüngliche Ziel - zum Beispiel den Patienten zu heilen - nicht mehr erreicht werden kann, dann muss ein neues Ziel definiert werden. Das bedeutet in letzter Konsequenz auch, das Sterben des Patienten zu akzeptieren, und sein Leiden zu lindern.
Damit ändern sich auch die medizinischen Mittel. ( ... ) Es werden nun palliative Maßnahmen wie Schmerztherapie, sozialpädagogische Beratung, psychologische und spirituelle Begleitung immer wichtiger, um die neuen Ziele zu erreichen.
Bei Herrn F., dem Patienten im Koma, beschließen Ärzte und Angehörige gemeinsam, noch ein paar Tage abzuwarten. Doch Herr F. wacht nicht auf. Alle sind sich einig, dass es in seinem Sinne wäre, ihn sterben zu lassen. Das Beatmungsgerät wird abgeschaltet. Herr F. bekommt Morphin gegen die Atemnot.
Er lebte noch anderthalb Tage, atmete ruhig und zeigte keine Anzeichen von Leiden. Seine Familie versammelte sich um sein Bett, sie konnte nun würdig von ihm Abschied nehmen und ihn in den letzten Stunden liebevoll begleiten.
Die gute Nachricht ist: Die Palliativmedizin hat in den letzten Jahren immer mehr an Stellenwert gewonnen. Aber es müsste mehr Stationen geben, rechnet der Autor vor, mehr Ethikkomitees an den Kliniken, die im Einzelfall beraten, und mehr sachliche, öffentliche Debatten. Zum Beispiel über die Beihilfe zum Suizid. Fast jeder Arzt ist schon einmal von einem unheilbar kranken Patienten um ein Sterbemedikament gebeten worden. Auch Ralf Jox.
"Herr Doktor, können Sie nicht etwas tun und mir helfen, das Ganze zu beschleunigen?" Ich erinnere mich gut, ich fühlte mich nie so ratlos wie in diesem Moment.
Die Beihilfe zum Suizid ist hierzulande nicht strafbar, aber Ärzten durch die Bundesärztekammer verboten. Ralf Jox hat abgelehnt. In seinem Buch spricht er sich aber für eine Legalisierung aus, wie etwa ein Drittel seiner Kollegen. Er stützt sich vor allem auf die Erfahrungen im US-Bundesstaat Oregon, wo Suizidhilfe in bestimmten Fällen erlaubt ist.
Leider ist gerade die Debatte um den assistierten Suizid in Deutschland bisher stark polarisiert, polemisch und ideologisch verlaufen. Neben Wissenschaftlern und Praktikern im Gesundheitswesen sind hier insbesondere Politiker und Medienvertreter gefragt, das Thema nicht zu tabuisieren ( ... ), sondern sensibel, sachlich und umfassend aufzugreifen und damit einer reifen gesellschaftlichen Entscheidung entgegenzuführen.
Das Buch "Sterben lassen" erfordert Mut. Es erfordert Mut, darüber zu schreiben, und Mut, darüber zu lesen. Denn der Gedanke an das Sterben macht Angst, jedem von uns. Aber nur, wenn wir uns mit den Entscheidungen am Ende des Lebens auseinander setzen, können wir sie erträglicher machen. Eine Patentlösung wird es in einer derart komplexen Frage niemals geben können.
Doch die Entscheidungshilfen, die Ralf Jox entwickelt hat, bieten eine echte Orientierung. Der Autor verzichtet auf medizinischen Fachjargon, er schreibt sachlich und gleichzeitig behutsam. Es ist diese feine Mischung, die "Sterben lassen" so wertvoll macht; zu einem Ratgeber für Betroffene, und zur Pflichtlektüre für Ärzte, Juristen und Politiker. Ralf Jox stellt klar: Einen Menschen in Würde sterben zu lassen ist eine Kunst. Sie kann gelingen.
Ralf J. Jox: "Sterben lassen: Über Entscheidungen am Ende des Lebens."
Edition Körber Stiftung, 268 Seiten, 14 Euro. ISBN: 978-3-896-84087-5
Das Schicksal von Herrn F. ist beispielhaft für unsere Zeit. Zwei Drittel aller Menschen sterben heute im Krankenhaus, und ihr Sterben kann fast beliebig lange hinausgezögert werden - das ist der Fluch der modernen Gerätemedizin. Keiner weiß das besser als der Palliativmediziner Ralf Jox. Im ersten Kapitel schreibt er:
Wir stehen also vor der Notwendigkeit, über das Wann und Wie des Sterbens zu entscheiden - und das nicht nur uns selbst, sondern, vielleicht mehr noch, andere betreffend. Dabei ist die Aufgabe nicht nur auf Ärzte oder Mitarbeiter im Gesundheitswesen beschränkt. ( ... ) In solchen Situationen brauchen wir viel Verantwortungsbewusstsein, Einfühlungsvermögen und Entscheidungsstärke.
Ralf Jox entwickelt in seinem Buch "Sterben lassen" ethische Kriterien, nach denen diese Entscheidungen am Sterbebett getroffen werden können. Er gewährt Einblicke in den Alltag auf deutschen Intensivstationen, und zeichnet ein umfassendes Bild der aktuellen rechtlichen Lage, von der Patientenverfügung bis hin zur Suizidbeihilfe.
Die öffentliche Diskussion über das Sterbenlassen krankt seit Jahren an einer übertriebenen Emotionalisierung. Viel zu häufig werden nur Erlebnisse und Einstellungen ausgetauscht, viel zu selten Fakten zur Kenntnis genommen und Argumente abgewogen.
Ralf Jox liefert Fakten und Argumente, basierend auf wissenschaftlichen Studien und seinen eigenen Erfahrungen. Doch Jox' Leitmotiv ist Empathie - und Achtung vor dem Patienten. Denn der sei der wahre Experte für sein Leben, nicht der Arzt. Überhaupt: Ralf Jox zufolge wissen viele Kollegen noch nicht einmal genau über die Prozesse Bescheid, die in einem sterbenden Körper ablaufen.
Dazu kommt eine diffuse Angst vor rechtlichen Konsequenzen. Also würden viele Ärzte ihre Patienten zwanghaft am Leben erhalten. Auch dann, wenn es medizinisch keinen Sinn mehr macht, oder sogar dem Willen des Patienten entgegensteht. Ralf Jox zitiert einen Intensivmediziner, den er im Rahmen einer Studie befragt hat:
"Wir sind so geprimed, dass wir eben alles tun müssen! Und etwas zu unterlassen oder nicht zu machen, das widerspricht einfach unserem ärztlichen Selbstverständnis."
Für den Autor bedeutet ärztliche Fürsorgepflicht, im Sinne des Patienten zu handeln. So müsse ein fürsorglicher Arzt akzeptieren, dass ein Zeuge Jehovas eine Bluttransfusion ablehnt - und deshalb vielleicht sogar stirbt.
Nur: Wer entscheidet, wenn der Patient nicht mehr selbst für sich entscheiden kann? Wenn noch nicht einmal eine schriftliche Patientenverfügung vorliegt?
In der Praxis hat es sich als hilfreich erwiesen, wenn die Entscheidung vom rechtlichen Vertreter des Patienten, anderen Angehörigen und dem ganzen Behandlungsteam gemeinsam getroffen und so die moralische, nicht die rechtliche Verantwortung, auf mehrere Schultern verteilt wird. Dieses "Shared Decision Making" kann erschwerte Trauerverläufe verhindern.
Ralf J. Jox favorisiert dabei das Konzept der Therapiezieländerung. Wenn das ursprüngliche Ziel - zum Beispiel den Patienten zu heilen - nicht mehr erreicht werden kann, dann muss ein neues Ziel definiert werden. Das bedeutet in letzter Konsequenz auch, das Sterben des Patienten zu akzeptieren, und sein Leiden zu lindern.
Damit ändern sich auch die medizinischen Mittel. ( ... ) Es werden nun palliative Maßnahmen wie Schmerztherapie, sozialpädagogische Beratung, psychologische und spirituelle Begleitung immer wichtiger, um die neuen Ziele zu erreichen.
Bei Herrn F., dem Patienten im Koma, beschließen Ärzte und Angehörige gemeinsam, noch ein paar Tage abzuwarten. Doch Herr F. wacht nicht auf. Alle sind sich einig, dass es in seinem Sinne wäre, ihn sterben zu lassen. Das Beatmungsgerät wird abgeschaltet. Herr F. bekommt Morphin gegen die Atemnot.
Er lebte noch anderthalb Tage, atmete ruhig und zeigte keine Anzeichen von Leiden. Seine Familie versammelte sich um sein Bett, sie konnte nun würdig von ihm Abschied nehmen und ihn in den letzten Stunden liebevoll begleiten.
Die gute Nachricht ist: Die Palliativmedizin hat in den letzten Jahren immer mehr an Stellenwert gewonnen. Aber es müsste mehr Stationen geben, rechnet der Autor vor, mehr Ethikkomitees an den Kliniken, die im Einzelfall beraten, und mehr sachliche, öffentliche Debatten. Zum Beispiel über die Beihilfe zum Suizid. Fast jeder Arzt ist schon einmal von einem unheilbar kranken Patienten um ein Sterbemedikament gebeten worden. Auch Ralf Jox.
"Herr Doktor, können Sie nicht etwas tun und mir helfen, das Ganze zu beschleunigen?" Ich erinnere mich gut, ich fühlte mich nie so ratlos wie in diesem Moment.
Die Beihilfe zum Suizid ist hierzulande nicht strafbar, aber Ärzten durch die Bundesärztekammer verboten. Ralf Jox hat abgelehnt. In seinem Buch spricht er sich aber für eine Legalisierung aus, wie etwa ein Drittel seiner Kollegen. Er stützt sich vor allem auf die Erfahrungen im US-Bundesstaat Oregon, wo Suizidhilfe in bestimmten Fällen erlaubt ist.
Leider ist gerade die Debatte um den assistierten Suizid in Deutschland bisher stark polarisiert, polemisch und ideologisch verlaufen. Neben Wissenschaftlern und Praktikern im Gesundheitswesen sind hier insbesondere Politiker und Medienvertreter gefragt, das Thema nicht zu tabuisieren ( ... ), sondern sensibel, sachlich und umfassend aufzugreifen und damit einer reifen gesellschaftlichen Entscheidung entgegenzuführen.
Das Buch "Sterben lassen" erfordert Mut. Es erfordert Mut, darüber zu schreiben, und Mut, darüber zu lesen. Denn der Gedanke an das Sterben macht Angst, jedem von uns. Aber nur, wenn wir uns mit den Entscheidungen am Ende des Lebens auseinander setzen, können wir sie erträglicher machen. Eine Patentlösung wird es in einer derart komplexen Frage niemals geben können.
Doch die Entscheidungshilfen, die Ralf Jox entwickelt hat, bieten eine echte Orientierung. Der Autor verzichtet auf medizinischen Fachjargon, er schreibt sachlich und gleichzeitig behutsam. Es ist diese feine Mischung, die "Sterben lassen" so wertvoll macht; zu einem Ratgeber für Betroffene, und zur Pflichtlektüre für Ärzte, Juristen und Politiker. Ralf Jox stellt klar: Einen Menschen in Würde sterben zu lassen ist eine Kunst. Sie kann gelingen.
Ralf J. Jox: "Sterben lassen: Über Entscheidungen am Ende des Lebens."
Edition Körber Stiftung, 268 Seiten, 14 Euro. ISBN: 978-3-896-84087-5