Archiv

Auseinandersetzung mit dem Westen
"Eindeutig ein Trend zur Isolation Russlands"

Die Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen beunruhige viele Menschen in ihrem Land, sagte die russische Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa im Dlf. Viele Russen fühlten sich als Europäer. Sie beobachte mit Sorge, wie die Öffnung ihres Landes weiter abgebaut werde.

Irina Scherbakowa im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Irina Scherbakowa
    Die russische Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa von der Organisation Memorial, hier im Oktober 2015 auf der Frankfurter Buchmesse. (imago / Sven Simon)
    Jasper Barenberg: Einmal mehr reagiert Moskau zornig. Eine Gemeinheit nennt es Außenminister Lawrow, dass jetzt auch die NATO mehreren russischen Diplomaten die Akkreditierung entzieht und auch die Arbeit Russlands im Hauptquartier der Allianz selbst weiter einschränkt. Auch dies eine Reaktion auf den Giftanschlag auf den russischen Ex-Spion Skripal in Großbritannien. Auch dies in der Überzeugung, dass die Spur der Verantwortlichen nach Moskau führt. Dort hat die Führung Gegenmaßnahmen angekündigt. Unklar ist im Augenblick noch, wie die ausfallen werden.
    Die Germanistin und Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa engagiert sich seit vielen Jahren auch in der Menschenrechtsorganisation Memorial in Russland. Einen schönen guten Morgen.
    Irina Scherbakowa: Schönen guten Morgen aus Moskau.
    "Es beunruhigt natürlich die Menschen"
    Barenberg: Frau Scherbakowa, wir haben nach dem Anschlag mit diesem chemischen Kampfstoff eine rasche und entschlossene Reaktion nicht nur in Großbritannien erlebt, sondern auch in vielen weiteren westlichen Staaten, während Russlands Führung ja von Anfang an von einem Zirkus spricht und von einer Provokation und von Vorwürfen, die völlig aus der Luft gegriffen sind. Wie haben Sie diese Konfrontation, diese Eskalation in den letzten Tagen und Wochen erlebt?
    Scherbakowa: Na ja, gut. Es ist unglaublich. Es beunruhigt natürlich die Menschen irgendwie in Russland, und ich glaube, es gibt trotz alledem sehr viele solche Menschen, die sich als Europäer eigentlich spüren oder fühlen, oder sich in einer europäischen Kulturtradition sehen. Das ist in jeder Hinsicht, was auch Werte anbetrifft zum Beispiel. Und für einen Menschen, der im Kulturbereich tätig ist und überhaupt im Menschenrechtlichen, egal ob historisch oder so, ist das unglaublich beunruhigend natürlich, weil das ist ein Zeichen und das läuft schon seit einiger Zeit, sogar seit einigen Jahren, eindeutig ein Trend zur Isolation Russlands, zu einem angeblichen Sonderweg, glaube ich, und zum Nationalismus. Das ist historisch gesehen in meinen Augen eine absolute Sackgasse. Ich weiß nicht, wie lange das dauert. Das kann auch lange dauern. Aber das kann nicht ewig sein. Da bin ich absolut überzeugt.
    Barenberg: Wenn Sie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen sprechen, mit Freunden – Sie haben das angedeutet -, mit anderen Kulturwissenschaftlern, als was für ein Zeichen werden diese immer schnelleren Schritte der gegenseitigen Konfrontation denn erlebt?
    Scherbakowa: Genau so wie ich Ihnen gesagt habe. Und es zeigt sich doch in sehr vielen Richtungen, würde ich sagen, weil Gott sei Dank hat sich unser Leben seit Anfang der 90er-Jahre so entschieden geändert, auch im Vergleich zur sowjetischen Zeit. Das kann ich im Unterschied zu meinen jüngeren Kollegen sehr gut beurteilen. Im Unterschied zu den alten Zeiten hat sich so viel geändert. So viele Kontakte sind entstanden. So viele Organisationen sind nach Russland gekommen, im guten Sinne des Wortes. So viele Projekte, ganz konkret mit den deutschen Historikern, oder mit Deutschland natürlich auf dem historischen Bereich ganz stark. Ich rede hier Kultur, gar nicht über Wirtschaft und so. Das war ein Zeichen der Öffnung. Das war ein Zeichen der Annäherung. Das war ein Abschied von dem Kalten Krieg. Und das wird alles nach und nach abgebaut.
    "Unerwartet, wie wirksam unsere Propaganda ist"
    Barenberg: Frau Scherbakowa, jetzt ist ja aus dem Kreml zu hören und von anderen Offiziellen aus Moskau, dass genau es so ist, dass der Westen diese ausgestreckte Hand aus Moskau ausschlägt, dass der Westen, dass Europa auch verantwortlich ist für diesen Abschied von der Annäherung. Im Zusammenhang mit Skripal ist von einer großen Verschwörung und von Provokation die Rede. Gibt es jemanden in Russland, der das möglicherweise auch öffentlich anzweifelt und anders sieht?
    Scherbakowa: Ja, ja, natürlich! – Natürlich! – Das ist eine offizielle Stimme und das ist eine offizielle Politik und natürlich gibt es nach wie vor viele Menschen und auch Politologen, und es gibt nicht so viele, aber es gibt noch unabhängige Medien und es gibt das Netz, wo diese unabhängigen Medien oft zuhause sind. Nein, nein! Es wird bezweifelt, absolut, und nicht nur bezweifelt, sondern es wird laut davon gesprochen, dass es zu nichts führt. Vor allem natürlich, was ganz erschreckend ist, das ist diese Wettrüsten-Politik, die angesagt ist, absolut klipp und klar, dass wir jetzt uns wieder aufrüsten müssen, um stark zu sein. Das sind so alte Töne, dass man sich gar nicht täuschen kann, wenn man wirklich nachdenkt. Aber man muss ja wirklich auch sagen, was für mich zum Teil unerwartet war, wie wirksam unsere Propaganda ist, wie wirksam das ist, was aus dem Fernseher kommt. Da ist das wirklich so, wenn man davor sitzt, als alter Mensch oder nicht ganz alter oder so, dann kann man wirklich, würde ich sagen, fast wahnsinnig werden in diesem Glauben, wir sind von den Feinden umringt, der Westen will uns, ich weiß nicht, vernichten, will uns erobern – absolut in diesem völlig sinnlosen und alten Stil. Aber das ist so massiv, dass man wirklich hier manchmal an Orwell zurückdenken kann, Krieg ist Frieden.
    Barenberg: Aber wenn wir über den Giftanschlag reden und die Auseinandersetzung darum, dann wird aus Moskau immer wieder gesagt, London hat die Pflicht, Großbritannien hat die Pflicht, endlich Beweise auf den Tisch zu legen. Sonst sind das alles haltlose Vorwürfe. – Steht Moskau da ungerechtfertigt am Pranger? Das sagen ja auch viele hier.
    Scherbakowa: Man muss das ja so sagen. Diese ganze Geschichte, die ist ja nicht aus dem Himmel gefallen. Das ist ja schon die Fortsetzung von vielen anderen Sachen, und die schlimmste in meinen Augen war ja das abgeschossene Flugzeug mit hunderten Passagieren im Sommer 2014.
    Barenberg: Über der Ostukraine.
    Scherbakowa: Ja, über der Ostukraine. – Wie gesagt, das ist nicht die erste Geschichte. Und wenn der Zufall so spielen sollte, dass es nicht wirklich direkt Moskau war, was ich natürlich sehr bezweifle, weil da scheint eine ganz stark chemische Waffengeschichte angewendet worden zu sein, dann ist das natürlich auch ein Zeichen, dass man völlig unglaubwürdig geworden ist. Aber so herum und nicht anders herum, weil man schon davor die ganze Zeit propagandistisch gelogen hat, etwas verschwiegen hat. Das ist ja sozusagen die Folge von vielen anderen Ereignissen davor und dann wird schon das Maß voll.
    Barenberg: Die Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa heute hier live im Deutschlandfunk im Gespräch. Vielen Dank dafür.
    Scherbakowa: Ja, ich bedanke mich auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.