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Gesellschaftlicher Redebedarf
Das Erzählen des Ichs

Im vergangenen Jahrzehnt haben wir einen grundlegenden Wandel in unseren Erzählformen erlebt. Egal, ob in der Literatur oder im Journalismus: Alle erzählen vom Ich.

Von Daniel Schreiber |
Der Autor Daniel Schreiber steht auf einer blau beleuchteten Bühne an einem Pult und hält eine Rede.
Eröffnende Keynote vom Autor Daniel Schreiber (Deutschlandradio / David Ertl)
Wo früher Perspektiven vorherrschten, die sich als objektiv inszenierten, und es manchmal sogar verpönt war, „ich“ zu sagen, ist eine deutliche Subjektivierung zu erleben. Persönliche Essays und Autofiktion, lange nahezu bedeutungslos, sind zu Größen auf dem Literaturmarkt und im Literaturbetrieb geworden. Und selbst in journalistischen Texten gehört es heute zum guten Ton, beherzt „ich“ zu sagen. Was hat diese Entwicklung ausgelöst? Was verspricht sie uns? Und hat sie nicht auch negative Seiten? Daniel Schreiber schreibt über den Verlust unserer großen Erzählungen, das Ich und das Wir und über das Leben im Kleinen.
Daniel Schreiber, 1977 geboren, ist Autor der Susan-Sontag-Biografie „Geist und Glamour“ (2007) und der beiden persönlichen Essaybände „Nüchtern. Über das Trinken und das Glück“ (2014) und „Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen“ (2017). Er lebt in Berlin und arbeitet als freier Autor, u.a. für ZEIT Online. 2021 erschien sein Bestseller „Allein“.

Vor ein paar Wochen habe ich den Film „Bros“ gesehen. In der schwulen Liebeskomödie leitet eine der beiden Hauptfiguren ein fiktives Museum für queere Geschichte in New York. Der Mitarbeitendenstab dieses fiktiven Museums umfasst Repräsentierende des gesamten Spektrums queeren Lebens. Ein schwuler weißer Mann sitzt neben einer schwarzen Transfrau, eine weiße Transfrau tauscht sich mit einer nonbinären Person of Colour aus, eine lesbische weiße Frau streitet mit einem weißen bisexuellen Mann. Im Kern dreht sich das Projekt des Museums darum, auf Geschichten von Menschen aufmerksam zu machen, die bisher nicht erzählt wurden. Oder besser gesagt, die vielleicht erzählt, aber nicht gehört wurden. Die jahrhundertelang unterdrückt und kriminalisiert wurden, denen auch später keine gesellschaftliche Validierung zuteilwurde und die erst in jüngeren Jahren überhaupt ein öffentliches Echo finden. Selbstverständlich muss ein Museum für queere Geschichte solche Geschichten erzählen. Geschichte ist bekanntlich nichts anderes als eine Sammlung von Geschichten – von Geschichten, die immer wieder und immer wieder neu erzählt werden müssen. Doch die lustigste Zeile des Films scheint genau dieses Projekt in Frage zu stellen. Bei einem chaotischen Streit legt die schwarze Transfrau – die beste Figur im ganzen Film – alles auf den Tisch, was in den zurückliegenden Monaten schiefgegangen ist. Dann holt sie zum K.o.-Schlag aus und wirft ihrem Chef den Satz an den Kopf: „And I hate storytelling!“  „Und ich hab‘s satt, Geschichten zu erzählen!“ Alle Anwesenden halten erschrocken die Luft an – ihre Aussage kommt nichts weniger als einer Blasphemie gleich. Ohne zu wissen, warum, musste ich lange über diese Szene lachen. Manchmal tue ich das heute noch, wenn ich an sie denke.
In jüngster Zeit sind immer wieder Stimmen zu vernehmen, die von einer Krise des Erzählens sprechen. Diese Krise des Erzählens ist allerdings völlig anders gelagert, als man nach dieser Anekdote vermuten würde. Die Stimmen, von denen hier die Rede ist, beklagen eine Veränderung von Erzählweisen – und damit letztlich auch das Aufkommen der Art von Geschichten, die Menschen wie die schwarze Transfrau erzählen, obwohl sie genug davon hat. Dabei nehmen diese Stimmen vor allem Genres wie Autofiktion, Memoire oder den persönlichen Essay ins Visier, die in den vergangenen Jahren eine ungeahnte Renaissance erlebt haben. Genres, in denen heute mit einer neuen Selbstverständlichkeit „ich“ gesagt wird.
Viele der bekanntesten und für viel von uns fesselndsten Bücher sind heute autobiografischer Natur. Bücher wie Annie Ernauxs „Die Jahre“ oder Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, Margarete Stokowskis „Untenrum Frei“, Kim de L’Horizions „Blutbuch“ oder Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter“, Deborah Levys „Was das Leben kostet“, Maggie Nelsons „Die Argonauten“ oder Ta-Nehisi Coates „Zwischen mir und der Welt“ – um nur einige zu nennen – werden mit wichtigen Preisen ausgezeichnet und finden eine große Lesendenschaft. Auch im Journalismus ist diese Entwicklung zu beobachten. In einem Zeitungstext „ich“ zu sagen, ist heute nicht mehr verpönt, sondern scheint Authentizität zu verbürgen. Und das Radio wird heute immer mehr von Formaten wie Podcasts eingeholt, die ohne eine persönliche Perspektive gar nicht vorstellbar sind. Lange wurden diese autofktionalen und nonfiktionalen Ich-Erzählungen in Literatur und Journalismus als Modeerscheinung abgetan. Doch diese „neuen“ Genres, so viel lässt sich inzwischen sagen, sind mehr als ein Trend. Sie stellen auch keinen Grenzfall des Erzählens mehr dar. Vielmehr sind sie aus medialen Landschaft unserer Tage nicht mehr wegzudenken. Sie sind zu so etwas wie einer Signatur unserer Zeit geworden.
Ich führe diese Entwicklung mit einem Gefühl verhaltener Überzeugung aus. Drei meiner eigenen Bücher sind autobiografisch geprägt. Es sind lange Essays, in denen ich meine persönliche Geschichte mit Themen aus Philosophie, Soziologie, Kulturgeschichte und Psychoanalyse verwoben habe. Ich habe diese Bücher geschrieben, um Fragen anzugehen, die ich mir persönlich nicht gerne stelle und die wir uns auch als Gesellschaft nicht gerne stellen. Viele der Themen, die ich darin bearbeite – Abhängigkeit etwa, Gefühle von Zuhauselosigkeit oder das Leben allein – sind einer gewissen gesellschaftlichen Tabuisierung ausgesetzt. Es sind Themen, über die wir häufig Schweigen bewahren oder uns, wenn überhaupt, meist nur in Klischees oder populärpsychologischen Gemeinplätzen austauschen. Themen, bei denen also ein großer gesellschaftlicher Redebedarf besteht. In meinen Büchern versuche ich eine differenzierte Sprache dafür zu finden, die es zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Bücher oft noch nicht gibt. Die persönliche Perspektive dieser Essays habe ich mir dabei nicht ausgesucht. Sie war das, was dem Material angemessen erschien, so wie auch im Falle dieses Essays.
Das „ich“ in Texten wie diesem galt lange als verdächtig. Variationen und Spuren dieses Verdachts lassen sich in der Rezeption autobiografisch gefärbter Texte auch heute noch finden – und nicht nur in der eingangs angesprochenen Ausrufung einer Krise des Erzählens. Die Erzählperspektive dieses „ich“ läuft der auktorialen Tradition großer realistischer Romane entgegen, die mit allwissenden Rundumschlägen kleine Welterklärungsmodelle lieferten – und mehrere Generationen lang für viele Menschen die Grundidee von Literatur verkörperten. Das erzählte „ich“ läuft auch der Haltung der Objektivität zuwider, mit der uns nüchtern und manchmal etwas staatstragend die Entwicklungen in Politik, Kultur und Gesellschaft journalistisch auseinandergesetzt wurden. Es ist immer schwierig, Paradigmenwechsel zu diagnostizieren, wenn man sich inmitten eines solchen Paradigmenwechsels befindet. Doch zurzeit macht es den Eindruck, als wäre die Perspektive des „Über-den-Dingen-Stehens“ dabei, sich zu überleben und selbst Geschichte zu werden. Vielleicht, weil sie für viele Menschen an Aussagekraft verloren hat. Weil sie den Herausforderungen einer Zeit, die für die meisten von uns zunehmend von Unsicherheit bestimmt ist, nicht mehr gewachsen ist. Weil sie für viele Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, nicht mehr zeitgemäß erscheint.  
Ich will damit nicht sagen, dass jene auktorialen und vermeintlich objektiven Erzählweisen je verschwinden werden. Auch nicht, dass alle Formen dieser „Ich“-Erzählungen interessant sind. Mich ärgern journalistische Beiträge, in denen sich Schreibende selbstverliebt als das moralische Gewissen der Nation aufspielen und dabei nur offene Türen bei dem einen oder anderen politischen Lager einrennen. Ich merke, wie ich bei der hundertsten Diskussion des Begriffs „Autofiktion“ unfreiwillig die Augen verdrehe oder dass ich „Romane“ wieder zuschlage, die im Grunde Memoiren sind, selbst dann, wenn ich sie als Memoiren gerne gelesen hätte. Gute Texte allerdings, in denen Schreibende die Lesenden an ihrer ureigenen Perspektive und Geschichte, an der Navigation ihres Lebens in unserer Zeit teilhaben lassen, haben eine einzigartige Kraft. Sie machen eine Form der Teilhabe möglich, eine spezifische Form der „Miterfahrbarkeit“, die sich in anderen literarischen und journalistischen Erzählformen nicht einstellen kann.
Es liegt auf der Hand, diesen Wandel der Erzählperspektiven im Kontext jenes Strukturwandels zu sehen, den unsere Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat. Man kann nicht über ihn sprechen, ohne auch über den Aufstieg der sozialen Medien zu reden, der mit ihm zusammenfällt. Es war noch nie einfacher, noch nie selbstverständlicher, „ich“ zu sagen als heute – auf Youtube, TikTok, Twitter, Instagram oder Pinterest. Selbst jene Leute, die sich vor ein paar Jahren noch ausführlich über die „Nabelschau“ in den sozialen Medien beklagten und vor dem von ihnen eingeleiteten Untergang der abendländischen Kultur warnten, haben heute einen Instagram-Account. Bekanntlich ist das Medium immer auch die Botschaft. Doch es griffe zu kurz, nur hier den Grund für die Renaissance des Autobiografischen zu verorten und sie lediglich als Auswirkung dieser Art, miteinander zu kommunizieren, zu verstehen. Ich glaube vielmehr, dass sich die Zeit, in der wir leben, durch etwas auszeichnet, das die Popularität dieser Art von Kommunikation erst begründet. Etwas, das sie geradezu verlangt.
Es mag müßig erscheinen, darüber nachzudenken, wie wir einander Geschichten erzählen. Doch wenn wir uns Geschichten erzählen, erzählen wir uns immer mehr, als nur diese Geschichten. Das sollten wir nicht vergessen. Wie das Eingangsbeispiel verdeutlicht, bestimmt unsere Geschichten darüber, wer Anteil an unserer gesellschaftlichen Kommunikation hat, wie wir uns als Gesellschaft verstehen und woran wir glauben. Nur, indem wir uns Geschichten erzählen, können wir darüber nachdenken, wie wir leben wollen –  und wie wir miteinander leben wollen.
Die Frage, wie wir miteinander leben wollen, ist in jüngerer Zeit zu einem explosiven Thema geworden. In vielen hitzig und bis zur Ermüdung geführten medialen Debatten wird sich über Dinge wie Political Correctness, Identitätspolitik, Cancel Culture oder das Gendern gestritten. Darum, ob und wie wir ein Land unterstützen können, das Opfer eines brutalen Angriffskriegs durch sein Nachbarland geworden ist. Oder darum, ob Menschen den Autoverkehr aufhalten dürfen, um gegen den Klimawandel zu demonstrieren. Diese Debatten sind deshalb so hitzig, weil die sich in ihnen gegenüberstehenden Positionen häufig unvereinbar sind. Und weil die Seiten, die diese unvereinbaren Positionen vertreten, oft nicht imstande sind, auch nur ein Mindestmaß an Verständnis füreinander aufzubringen.
Doch wenn wir nur einen Schritt von uns selbst und unserem Leben zurücktreten, werden wir feststellen, dass unsere Antworten auf die Frage, wie wir miteinander leben wollen, geradezu divergieren müssen. Wir alle haben unsere eigene, durch biografische, psychologische und ökonomische Voraussetzungen geprägte Sicht auf die Welt. Es sollte uns eigentlich nicht schockieren, wenn andere Menschen unsere Sicht auf die Welt nicht teilen. Dennoch tut es das. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit, Brücken zu bauen, die Begrenzungen unseres eigenen Horizonts zu überwunden und zu akzeptieren, dass andere Menschen eine andere Sicht auf die Welt haben. Es ist mit anderen Worten eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit, jene inneren Mauern zu reflektieren, die wir alle mit uns herumtragen.
Es ist völlig normal, mit solchen inneren Mauern durchs Leben zu gehen. Wir alle wurden mit ihnen sozialisiert – seien es Mauern, die dafür sorgen, wie wir unsere soziale Herkunft sehen oder wie wir mit unseren Körpern umgehen. Seien es rassistische, misogyne, antesemitische, ableistische, homo-, trans- und islamophobe Mauern. Wir haben sie als Kinder in unseren Familien vorgelebt bekommen, sie werden immer und überall in unserer Gesellschaft reinszeniert, in den Filmen und Serien, die wir schauen, in den Büchern, die wir lesen, in den Medien, die wir konsumieren. In gewisser Hinsicht ist es unausweichlich, mit ihnen zu leben. Häufig tun wir das, ohne uns dessen auch nur bewusst zu sein. Und meinem Gefühl nach setzt genau an dieser Stelle auch die Renaissance der Ich-Erzählungen in Literatur und Journalismus ein, von der hier die Rede ist. Keine anderen Genres konfrontieren uns so sehr mit unseren inneren Mauern – unseren individuellen und unseren gesellschaftlichen inneren Mauern. Keine anderen Genres sind so gut in der Lage, Brücken zu bauen. Keine anderen Genres adressieren so direkt, wie wir miteinander leben wollen. Wie wir heute, in Zeiten wie diesen, in Zeiten wachsender Unsicherheit miteinander leben können. 
Doch wie genau? Der französische Philosoph Jean-François Lyotard stellte in seinem Buch „Das postmoderne Wissen“ Ende der Siebziger Jahre die vieldiskutierte These vom „Ende der großen Erzählungen“ auf. Mit dem „Ende der großen Erzählungen“ meinte Lyotard keine literarischen Erzählformen, sondern beschreibt einen grundlegenden Glaubwürdigkeitsverlust, unter dem unsere Gesellschaft leidet. Die „Erzählungen“, die er dabei im Auge hat, sind die Politik und die Philosophie. Keiner dieser beiden Bereiche könne noch so etwas wie eine verbindliche „Rationalität“ für sich beanspruchen, so Lytoard. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer hatten etwas Ähnliches im Auge, als sie die „Selbstzerstörung der Aufklärung“ konstatierten. Das Ende dieser großen Erzählungen, lange nur eine philosophische Denkfigur, lässt sich seit einigen Jahren in Echtzeit verfolgen. Es ist schlägt sich jeden Tag in unserem ganz realen Leben und seiner Dauerkrise nieder. In Entwicklungen, die je nachdem, wie wir die Welt sehen, begrüßenswert oder äußerst bedrohlich wirken: Dem Ende von patriarchaler Selbstverständlichkeit und starrer Auffassungen von Geschlecht etwa. Aber auch dem am Horizont auftauchenden Ende des kollektiven Glaubens an Wissenschaft und Demokratie.
Diese Entwicklungen stellen auch jenes „autonome Subjekt“ infrage, das sich auf selbstverständliche Gewissheiten berufen und das im Rückgriff auf von allen geteilten Wahrheiten sagen kann, was richtig und was falsch sei. Lyotard spricht daher auch vom Aufkommen auf sich zurückgeworfener Individuen, die erfindungsreich ihren Weg zwischen „kleinen Erzählungen“ navigieren müssen. Horkheimer und Adorno sprechen von der „Dialektik der Aufklärung“, also der Notwendigkeit, dem Ende der Aufklärung mit einem aufklärerischen, einem kritischen Geist zu begegnen. Anders ausgedrückt leben wir in einer Zeit, die sich in vieler Hinsicht durch einen grundlegenden Wandel auszeichnet und in der wir selbst unseren Weg zwischen verlorenen Gewissheiten und neuen Sicherheiten finden müssen. Vielleicht stellt dieses suchende „Ich“ die letzte große Erzählung unserer Zeit dar. Eine Erzählung, auf die wir uns trotz unserer einander manchmal diametral gegenüberstehenden Positionen einigen können.
Offensichtlich ist dieses schreibende „Ich“, von dem hier die Rede ist, keine neue Erfindung. Im Gegenteil, es ist so alt wie die Literatur und der Journalismus selbst. Ohne die religionsphilosophischen „Bekenntnisse“ von Aurelius Augustinus aus dem vierten Jahrhundert nach Christus - sozusagen der Soundtrack zur Christianisierung des Selbst - gäbe es das Genre der Memoire nicht. Die heute wieder so gängige Inszenierung der inneren Einkehr und ihre Erzählfigur lebensverändernder Erweckungserlebnisse wäre ohne ihn nicht denkbar. Als einer der vielen Geburtstexte der „Autofiktion“ kann Johann Wolfgang von Goethes „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ von 1814 gelten - auch wenn der Begriff der Autofiktion erst 1977 vom französischen Autor Serge Doubrovsky erfunden wurde. Goethe sprach bei der Beschreibung seines Lebensrückblicks von einem „Märchen“ und rückte damit in den Fokus, auf welch wackeligen Beinen die damals entstehenden bürgerlichen Identitätsentwürfe standen. Joan Didion, die große Essayistin und New-Journalism-Ikone veröffentlichte schon 1979 umstandslos den ärztlichen Bericht, der ihr nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie ausgestellt wurde und schaffte es damit wie niemand anderes, das Lebensgefühl der Paranoia im Kalifornien der ausgehenden 1960er Jahre zu beschreiben. Ihr unvergleichliches „Weiße Album“ wurde zu einem Klassiker. Christa Wolf hat mit Büchern wie „Kindheitsmuster“, „Störfall“ oder „Was bleibt“ ein Oeuvre geschaffen, das nicht nur stark von autofiktionalen und essayistischen Tendenzen geprägt ist. Es hat bis heute nichts von seiner großen Wirkmacht verloren. Das Private, so scheint es, war schon immer und auf eine selbstverständliche Weise politisch.
All diesen historischen Beispielen ist eines gemeinsam: Sie erzählen Geschichten, die die Gesellschaften jener Zeit nicht hören wollten. Sie vermitteln Einsichten, die man lieber von sich fernhielt oder vor denen man sich zunächst versteckte. Sie schildern Perspektiven, gegen die sich ein Großteil der Gesellschaft wehrte – und schenkten dabei Orientierung in Zeiten, die von einer ähnlich großen Unsicherheit geprägt waren wie die unsrige. All diese Bücher haben einen gesellschaftlichen Wandel begleitet und dabei geholfen, dass viele Menschen jene inneren Mauern einreißen konnten, mit denen sie aufgewachsen sind und sozialisiert worden waren. Sie haben erfahrbar gemacht, wie es ist, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Haben es Menschen ermöglicht, die eigenen inneren Mauern zu lokalisieren, sie einzureißen oder zumindest ein Loch in sie zu hauen, um zu sehen, welche Welt sich dahinter verbirgt. 
Auch viele der heutigen Ich-Genres tun das, egal ob es sich dabei um einen autofiktionalen Roman, einen persönlichen Essay oder einen Interview-Podcast handelt. Es ist kein Zufall, dass sie häufig von Menschen stammen, die Rassismus, Misogynie, Homo- und Transphobie, Antisemitismus, Islamophobie und Ableismus am eigenen Leib erfahren haben. Es ist kein Zufall, dass sie Einblicke in Traumata geben, von denen unsere Gesellschaft lange nichts wissen wollte. Es ist kein Zufall, dass sie politische Diskussionen anstoßen und gegen jene inneren Mauern angehen, die unser Miteinander häufig so schwer machen. Dabei sind wichtige soziale Bewegungen in Gang gebracht worden. Neuere feministische Diskurse gehen stärker denn je gegen Misogynie an. Junge, migrantisierte Menschen kämpfen mit einer neuen Selbstverständlichkeit gegen Rassismus. Menschen mit Behinderungen gegen Ableismus. Oder queere Menschen eben gegen Homo- und Transphobie.
Diese Bewegungen haben einen überraschend starken öffentlichen Gegenwind erfahren, häufig schlägt ihnen sogar ein regelrechter Hass entgegen. Und zwar nicht nur von jenen rechten Randgruppen, von denen man es erwarten würde. Sondern oft auch aus der Mitte der Gesellschaft. Man wirft ihnen gerne vor, sie seien zu wütend und hielten sich nicht an die gesellschaftlichen Spielregeln. Man wirft ihnen vor, dass es ihnen nicht um politische Sachargumente gehe, sondern nur um moralische Zugehörigkeit. Dass sie keine konkreten Lösungsangebote machen würden. Dass sie in Wahrheit keine Gleichheit herstellen, sondern letztlich nur Unterschiede verfestigen wollten. Dass sie andere Menschen aus politischen Diskursen ausschließen und Separatismus betreiben möchten. Dass sie Redeverbote ausrufen würden. Und in einem absurden Umkehrschluss macht man sie sogar für jenen Aufstieg der extremen Rechten verantwortlich, den wir in Westeuropa und den Vereinigten Staaten erlebt haben. Man glaubt, dass sie das Gleichgewicht der politischen Mitte gestört – und so in einer quasi berechtigten „Gegenreaktion“ Menschen mit faschistoidem Gedankengut auf den Plan gerufen hätten. 
Ich möchte und kann an dieser Stelle nicht auf alle diese Argumente eingehen. Viele von ihnen sind so absurd, dass sie sich eigentlich schon von selbst disqualifizieren. Ich möchte allerdings betonen, dass die Schreibenden und Medienmachenden, von denen hier die Rede ist, sich und ihre Gruppen nicht aus Selbstzweck als Minderheit definieren - sondern dass sie in einer Gesellschaft leben, in der sie bereits als solche definiert werden. Dass sie tagtäglich mit den inneren Mauern anderer Menschen konfrontiert werden. Dass sie tagtäglich aus dem gesellschaftlichen Spiel, an dessen Regeln sie sich halten sollen, ausgegrenzt werden. Dass sie jener Menschlichkeit beraubt werden, die nur der imaginierten Mehrheit zugestanden wird. Dass sie tagtäglich mit Beleidigungen, mit Mord- und Vergewaltigungsdrohungen überhäuft werden und zu ihren Lesungen manchmal nur mit Polizeischutz gehen können – während etwa die erfolgreichste, jene imaginierte Mehrheit wie keine andere repräsentierende Schriftstellerin des Landes ihre Ressentiments in jeder deutschsprachigen Zeitung und jeder Talkshow verbreitet und dabei im Brustton der Überzeugung eine Kultur anklagt, in der Menschen wie sie sich gar nicht mehr trauen können, ihre Meinung zu sagen. Zu behaupten, dass jene Schreibenden und Medienmachenden moralisieren und Separatismus betreiben, zeigt vor allem die Weigerung, sich mit ihren berechtigten und für unser Zusammenleben essentiellen Belangen auseinanderzusetzen.
Die Argumente gegen diese Schreibenden und Medienmachenden führen letztlich nur jene Ausgrenzung fort, die sie ohnehin schon erfahren. Eine Ausgrenzung, die oft mit einer Art magischem Denken einhergeht – dem magischen Denken, durch das Aufrechterhalten rassistischer, misogyner, antisemitischer, ableistischer, homo-, trans- und islamophober Sichtweisen in eine Welt zurückkehren zu können, in der alles noch einfacher war, in der die Wirklichkeit vermeintlich besser aussah als heute. In eine Welt der „großen Erzählungen“, wie Lyotard sagen würde.
Die Essayistin Maggie Nelson schreibt in Bezugnahme auf Joan Didions berühmten Satz „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben“, dass jene Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, „uns vielleicht befähigen zu leben, uns aber gleichzeitig auch gefangen halten, uns unfassbare Schmerzen zufügen“. „In ihrem Wettlauf darum, im Sinnlosen einen Sinn zu finden,“ so Nelson, „verzerren sie, sie lassen aus, verschlüsseln, tadeln, verherrlichen, begrenzen, verraten, mythologisieren (…)“ Nelson macht so deutlich, dass wir jene Geschichten, die wir uns selbst und als Gesellschaft erzählen, immer wieder daraufhin überprüfen müssen, ob sie noch zu uns passen. Dass man sie manchmal ablegen muss, um sie wieder neu und anders erzählen zu können. Oft halten wir nur an ihnen fest, weil wir uns so sehr an sie gewöhnt haben und nicht mehr merken, wie sehr sie uns einschränken, wie weh sie uns tun.
Im Angesicht großer Veränderungen tendieren wir häufig dazu, uns dieser Suche nach neuen, besseren, passenderen Geschichten zu verweigern. Intuitiv wollen wir an der alten Welt festhalten, an den alten Gewissheiten, selbst wenn wir wissen, dass sie nicht mehr zutreffen. Unsere inneren Mauern können sich manchmal anfühlen, als würden sie uns eine beruhigende, weltanschauliche Sicherheit schenken. Selbst wenn sie dazu führen, dass wir uns von vielen unserer Mitmenschen isolieren, unsere Sicht auf die Welt verengen und uns unglücklich machen. Nicht zuletzt dagegen gehen viele der neueren Ich-Erzählungen an. Sie versuchen, neue Geschichten zu erzählen, Geschichten, die besser zu unserem Leben dieser Tage passen. Geschichten, die uns nicht mehr einengen, uns nicht mehr weh tun. Sie machen vor, wie es ist, andere Wege zu gehen und Dinge anders zu sehen. Sie machen auf konkrete Weise erfahrbar, wie es ist, jenes beruhigende Gefühl weltanschaulicher Sicherheit zusammen mit den alten Gewissheiten ziehen zu lassen.
In den Worten der amerikanischen Lyrikerin und Essayistin Audre Lorde gründet sich unser zukünftiges Überleben als Gesellschaft darauf, dass es uns gelinge, gleichberechtigt und auf Augenhöhe miteinander umzugehen. Es seien nicht die Unterschiede, die uns lähmen, so Lorde, sondern unser Schweigen über diese Unterschiede. Wir sind, wie gesagt, alle mit alten Vorurteilen, mit alten Strukturen der Unterdrückung sozialisiert worden und haben diese selbstverständlich verinnerlicht. Audre Lorde mahnte daher an, dass wirklicher gesellschaftlicher Wandel nicht nur offensichtliche Repressionen in den Blick nehmen müsse, sondern auch und vor allem jene Anteile der Geschichte gesellschaftlicher Unterdrückung, die tief in allen von uns eingepflanzt worden seien. Die von uns verinnerlichten Strukturen, mit anderen Worten. Die Mauern in unserem Inneren. Wenn wir als Gesellschaft wirklich zusammenleben wollen, wenn wir tatsächlich Brücken bauen und ein echtes Miteinander möchten, müssen wir auch jene inneren Mauern angehen. Wir müssen auf die Vielzahl der Geschichten hören, die Menschen sich erzählen. Auf die Geschichten, denen wir bisher nicht zugehört haben, die keine Institutionalisierung und keine gesellschaftliche Validierung erfahren haben.  
Ich glaube daran, dass viele der Genres, von denen heute die Rede war, genau das leisten, ob es sich dabei nun um Autofiktion, Memoiren oder persönliche Essays handelt. Ich glaube daran, dass solche Texte uns dabei helfen können, unseren Weg im Leben zu finden. Daran, dass ihre Menschlichkeit uns davon abhalten kann, in die Fallen von Hass und Ressentiment zu laufen. Ich glaube, dass sie Alternativen zu den gängigen Selbstverwirklichungsangeboten unserer Zeit liefern. Dass sie uns dabei helfen können, uns unseren Traumata zu stellen und uns damit nicht mehr allein zu fühlen. Dass sie uns, indem sie davon erzählen, wie andere Menschen ihren Weg in einer Zeit der Unsicherheit finden, dazu anregen, einen Blick auf all die Geschichten zu werfen, die wir uns, vielleicht ohne es zu merken, selbst jeden Tag erzählen. Dass sie es uns ermöglichen zu schauen, ob das noch die Geschichten sind, die wir wirklich brauchen, um unser Leben zu führen – oder ob es nicht Zeit für neue Erzählungen ist. Kleine Erzählungen und große.  
Lassen Sie mich zu der eingangs erwähnten Szene aus dem Film „Bros“ zurückkehren. „And I hate storytelling!“ Warum fand ich diesen Satz so lustig? „Und ich hasse es, Geschichten zu erzählen!“ „Und ich hab’s satt, Geschichten zu erzählen!“ Im Kontext jenes fiktiven Museums für queere Geschichte stellt dieser Satz ein Sakrileg dar, einen nahezu undenkbaren Tabubruch. Er stellte nicht nur das grundsätzliche Projekt des Museums in Frage, sondern auch eine der zentralen Arten und Weisen, wie wir uns heute Geschichten erzählen. „And I hate storytelling!“ Auch mein Leben beruht darauf, Geschichten zu erzählen, persönliche Geschichten zu erzählen. Und auch mir widerstrebt es manchmal, diese Geschichten zu erzählen. Mir erst durch ihr Erzählen einen Platz in der Gesellschaft, in der ich lebe, erarbeiten zu können. Es widerstrebt mir, diese Geschichten erzählen zu müssen.
Es widerstrebt mir, in einer Gesellschaft zu leben, in der ich diese Geschichten erzählen muss. Und dennoch ist das der beste Grund dafür, es weiterhin zu tun.