Christoph Reimann: Sinop liegt im Norden der Türkei, direkt am schwarzen Meer. Ein Städtchen mit knapp 100.000 Einwohnern und Schauplatz der Sinopale. Das ist eine Biennale für zeitgenössische Kunst, die die künstlerische Auseinandersetzung mit Formen des gesellschaftlichen Widerstandes sucht, zum Beispiel Graswurzelbewegungen betrachtet, ökologischen Aktivismus oder die Arbeit von NGOs in einen Kunstkontext überführt. Eigentlich hätte sie jetzt im August stattfinden sollen - tja, eigentlich. Denn die Organisatoren der Sinopale haben sich dazu entschlossen, die Kunstschau erstmal zu verschieben. Grund sind die aktuellen Ereignisse in der Türkei. Nike Bätzner ist Professorin für Kunstgeschichte an der Kunsthochschule Halle und gehört zum Kuratorenteam der Sinopale. Guten Tag.
Nike Bätzner: Guten Tag.
Reimann: Frau Bätzner, eine Veranstaltung wie die Sinopale, die auch NGOs einen festen Platz einräumt, das hat doch die Türkei im Moment besonders nötig. Was waren denn jetzt die konkreten Gründe für Sie und Ihre Kollegen, die Sie dazu veranlasst haben, erstmal auszusetzen?
Bätzner: Ja, man kann schon sagen, eigentlich wäre das im Moment besonders nötig, auf der anderen Seite wären wir aber wirklich vier Tage nach dem Putschversuch in die Türkei geflogen. Und wir haben über das Wochenende uns per SMS verständigt mit den türkischen Partnern und am Montag dann eine Skype-Konferenz gemacht. Und der Vorschlag kam von türkischer Seite, dass wir das aussetzen, beziehungsweise verschieben.
Heikles Engagement
Reimann: Was steckt dahinter? Angst?
Bätzner: Ja schon, erstmal vielleicht Angst, Verwirrung, auch erstmal zu schauen, wie sich die Situation denn entwickelt und man muss schon sagen, dass Sinop zwar im Norden der Türkei und außerhalb der großen Brennpunkte liegt, aber doch eine Aufmerksamkeit auf dieser Stadt liegt. Also die Gouverneurin von Sinop - AKP-Mitglied - ist als eine der ersten suspendiert worden, gleich am Samstag. Und zwei Stunden später saß schon jemand anderes auf ihrem Stuhl. Und Sinop ist ein Ort, der ansonsten eigentlich von der CHP regiert wird - also Oppositionspartei - und immer oppositionelle Strukturen auch gefördert hat, aber dadurch auch eben durchaus beobachtet wird. Also es ist eine Situation, wo wir erstmal gesagt haben, vielleicht ist es für die Leute dort auch zu heikel, sich jetzt genau in dieser Art und Weise zu engagieren, wie Sie es ja auch beschrieben haben, also dass es einen direkten Kontakt zwischen Kunst und NGOs gibt, direkte Zusammenarbeit zwischen Bürgern in Sinop und den Künstlern, die anreisen.
Reimann: Genau, erzählen Sie uns mal ein bisschen wie da die Kunst vor Ort in Sinop entsteht. Die Kunst entsteht da in situ, also vor Ort. Aber was hätten Sie in diesem Jahr vorgehabt da? Und wie ist die Bevölkerung dort eingebunden?
Bätzner: Also die Bevölkerung in Sinop ist auf diese Sinopale eingestellt, kann man sagen. Also es wäre ja die sechste Sinopale gewesen, ins zehnte Jahr wären wir gegangen. Und ich war auch schon mal 2010 als Kuratorin mitbeteiligt an der Sinopale. Also es ist eine Biennale, die auf eine kontinuierliche, immer wieder ansetzende Zusammenarbeit auch setzt. Konkret wäre das zum Beispiel so gewesen, dass ein Künstler, der einen Film in einem Raum präsentiert hätte, den er komplett umgestaltet hätte, wo man praktisch in ein "Brain", in ein Hirn hineingegangen wäre. Die Wände wären mit Zeitungen beklebt gewesen, darauf wäre eine Wandzeichnung, die zwischen Hirn und osmanischem Ornament steht, also eine osmanische Kammer. Die Symbolik ist ja eigentlich ziemlich klar: die Überschreibung der Informationsstruktur. Ein anderer Künstler hätte mit Schriftstellern dort vor Ort direkt zusammengearbeitet. Ein anderer wäre in die stillgelegte Glasfabrik gegangen und hätte von dort Elemente herausgeholt. Warum die Glasfabrik stillgelegt wurde vor zehn Jahren ist absolut schleierhaft, also das hat mit Korruption und ähnlichen Dingen zu tun. Wir hätten mit dem "Women's Council" zusammengearbeitet, die haben sich schon gefreut darauf, dass wir Informationsveranstaltungen machen. Und abgesehen von diesen ganzen direkten Zusammenarbeiten gibt es auch eine Stimmung, eine Situation in Sinop, dass man Abends Filme zeigt, dass es nächtliche Konzerte gibt. Also es gibt solche Agora-Strukturen könnte man sagen, wo die Leute zusammengebracht werden.
Reimann: Unter Beteiligung von Künstlern aus Deutschland, aus Schweden, aber auch aus der Türkei selbst.
Bätzner: Auch aus der Türkei selbst, klar.
Kunst in Zeiten der Zensur
Reimann: Wie haben die reagiert auf Ihre Absage? Sind die vielleicht auch froh, sich da dann nicht sozusagen präsentieren zu müssen, in einer Zeit, wo man in der Türkei eigentlich kaum noch den Mund aufmachen kann?
Bätzner: Also das war eigentlich mit der Hauptgrund. Wir können dort hinfahren und wieder wegfahren. Aber die Leute, die dort vor Ort leben, beziehungsweise in der Türkei leben, müssen viel vorsichtiger mit dem umgehen, was sie von sich geben.
Reimann: Ihr Kollege Melih Görgün vielleicht, der in Istanbul an einer Kunsthochschule arbeitet und auch zum Kuratorenteam gehört. Bei allem was wir aus der Türkei wissen: Ist er denn überhaupt noch im Amt?
Bätzner: Ja, er ist noch hier im Amt und man muss auch sagen, die Kunsthochschulen stehen nicht so im Fokus wie andere Hochschulen vielleicht.
Reimann: Diese Sinopale, die gibt es seit 2006, in diesem Jahr hätte sie zum sechsten Mal stattgefunden. Hat sich der Stimmungswandel in der Türkei für Sie angekündigt, was die Organisation der Biennale angeht?
Bätzner: Es hat sich insofern angekündigt, dass die Unterstützung von staatlichen Stellen diesmal nicht gegeben war für diese Sinopale, sonst gab es die.
Reimann: Mit welcher Begründung?
Bätzner: Naja, es gibt keine offizielle Begründung. Es ist so, dass man auch andere Orte ja geschlossen hat in der letzten Zeit. SALT hat einen großen Ausstellungsraum, mitten im Zentrum von Istanbul - in der İstiklal - schließen müssen mit der Begründung, dass die Feuertreppen nicht in Ordnung seien, oder irgendetwas fadenscheiniges wird dann immer gefunden. Orte die lange existieren, wo es nie ein Problem gab, auf einmal gibt es ein Problem, ein Scheinproblem. Also wir haben beobachtet, dass einfach immer mehr Kunstorte schließen mussten, aus unterschiedlichen Gründen. Die Cafés sind nicht mehr so besucht wie sonst, die Stimmung gedrückt und still, könnte man so sagen.
"Wir wollen uns nicht machtlos davonschleichen"
Reimann: Was können jetzt so Kunst- und Kulturveranstaltungen wie die Sinopale in dieser Zeit bewirken? Sie haben gerade erklärt, dass sie aus sehr verständlichen Gründen diese Veranstaltung in diesem Jahr nicht stattfinden lassen. Aber ist man nicht vielleicht einfach machtlos gegenüber so einem Regime, dass ja einfach ganz vieles unterdrückt in der Türkei?
Bätzner: Ja wir wollen uns noch nicht machtlos davonschleichen, könnte man sagen. Also wir wollen unbedingt weiter kooperieren. Wir tun das auch, wir sind in einem sehr intensiven Austausch, skypen jede Woche und das ist ganz wichtig.
Reimann: Wagen wir einen Blick in die Zukunft. Hat das Regime Erdoǧan die Kraft, die Macht, die Kunst- und Kulturszene in der Türkei mundtot zu machen?
Bätzner: Im Moment sieht es nicht gut aus, es besteht die Gefahr, dass sich viele auch selbst zensieren, dass die Angst um sich greift und alle nur noch sehr, sehr vorsichtig sind. Als ich im Mai dort war, haben wir wild diskutiert über politische Fragen, da gab es überhaupt keine Grenze, was gesagt werden kann oder nicht, vielleicht waren manche vorsichtig in der Öffentlichkeit. Jetzt ist die Vorsicht natürlich viel, viel größer - und manche, die vielleicht vorher gar nicht sich pro Erdogan geäußert haben, wenden sich jetzt doch sehr stark auch gegen die Gülen-Bewegung und versuchen auch Schuldige zu finden. Also es ist vielleicht auch eine Verteidigungshaltung gegenüber den Angriffen von außen auch da. Es ist schwierig zu sagen, wie das weitergehen wird. Wir werden das beobachten und überall einsetzen, wo es irgend geht. Und ich hoffe sehr, dass wir auch in Sinop selber etwas realisieren können. Weil: Gerade im Sommer kommen eben sehr, sehr viele Leute nach Sinop, auch aus den großen Metropolen, weil es eben eine wunderschöne Stadt am schwarzen Meer ist und dort viele ihre Ferienwohnungen haben.
"Inhaltlich stärker, inhaltlich vernetzter"
Reimann: Das heißt, die Sinopale ist nicht aufgehoben, sondern aufgeschoben?
Bätzner: Genau, sie ist aufgeschoben. Das ist zumindest unser klares Ziel. Und es könnte sein, also, das wäre meine Hoffnung oder unsere Hoffnung, dass wir sogar eine stärkere Sinopale machen können als wir sie dieses Jahr gemacht hätten.
Reimann: Inhaltlich stärker? Oder was die Menschen angeht, die Künstler?
Bätzner: Inhaltlich stärker, inhaltlich vernetzter.
Reimann: Deutlich politischer vielleicht auch?
Bätzner: Vielleicht auch deutlich politischer, wobei deutlich politischer nicht heißt, dass man große Parolen schwingt. Es geht nicht darum, vordergründig klar eine Front zu ziehen, sondern die künstlerische Sprache darf sich ja auch nicht nur als Propagandasprache - wenn es auch eine Gegenpropaganda dann ist - in Anspruch nehmen lassen, sondern muss ihre Freiheit auch haben, sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise zu entwickeln. Aber wir hoffen schon, dass es insofern stärker wird, dass wir uns solidarisieren mit anderen Bewegungen, mit anderen künstlerischen Initiativen und dass wir gemeinsam etwas realisieren können. Wenn es nicht in Sinop ist, dann werden wir das irgendwo anders tun, also es wird was entstehen, auf jeden Fall nächstes Jahr.
Reimann: Nike Bätzner von der Kunsthochschule Halle, Teil des Kuratorenteams der Sinopale, die in diesem Jahr eben nicht stattfindet, womöglich nächstes Jahr, womöglich aber auch nicht in Sinop. Frau Bätzner, vielen Dank für dieses Corso-Gespräch.
Bätzner: Ich danke Ihnen.