Benedikt Schulz: Weg von zu Hause, und zwar mal so richtig – für ein Jahr ins Ausland, das ist eine ambivalente Geschichte für viele Schülerinnen und Schüler. Denn, na klar, das ist verlockend, weil aufregend, aber andererseits ist es auch für viele ein bisschen angsteinflößend: allein in der Ferne, getrennt von Freunden und Familie in einer fremden Umgebung mit einer fremden Sprache. Was stellt ein solches Austauschjahr mit den jungen Leuten an, die dieses Abenteuer wagen – das haben Psychologen der Uni Jena untersucht. Sie haben rund 750 Schülerinnen und Schüler befragt, von denen ein Teil im Ausland war und ein Teil eben nicht. Das Ergebnis: Die Schülerinnen und Schüler machen im Ausland eine Menge mit in psychologischer Hinsicht, zumindest im Vergleich zu denen, die nicht ins Ausland gehen. Und die Forscher sprechen gar von Identitätskrisen. Einer der Autoren der Studie ist Franz Neyer, Psychologe an der Universität in Jena, und er ist im am Telefon. Hallo, ich grüße Sie!
Franz Neyer: Guten Tag!
Schulz: Fangen wir mal mit diesen Identitätskrisen an. Wie schlecht geht es denn da den Schülerinnen und Schülern im Auslandsjahr?
Neyer: Identitätskrisen ist ja ein schweres Wort oder ein starkes Wort, und ich würde nicht so weit gehen, dass diese jungen Menschen da wirklich in eine schwere Krise ihrer Identität oder ihrer Persönlichkeit geraten. Aber sie hinterfragen, wer sie sind, und sie hinterfragen die Identifikation mit ihrem Heimatland, zum Beispiel, lebe ich gerne in Deutschland, möchte ich gerne dahin zurückkehren oder wäre es nicht besser für mich, später mal woanders zu leben.
Sie hinterfragen auch ihren Freundeskreis beispielsweise, ob der nun wirklich das Richtige ist für sie, ob sie sich damit identifizieren können, ob sie weiterhin diesen Freundeskreis pflegen wollen oder ob sie nicht vielleicht was ganz anderes in ihrem Leben machen wollen. Das sind so die Krisen, die sie durchmachen. Krisen in einem positiven Sinne, die sie auch weiterbringen im Hinblick auf ihr Selbstkonzept, so wie wir in der Psychologie sagen, als im Hinblick auf die Definition dessen, wer oder was sie eigentlich sind und was sie ausmacht als Person.
Schulz: Was genau passiert denn da in den Köpfen der jungen Leute, wenn sie im Ausland sind, und warum passiert das?
Neyer: Sie sind erst mal weit weg von dem, was vertraut ist, was mit ihnen vertraut ist, ihre vertraute Umgebung, ihr Elternhaus, ihr Freundeskreis. Sie machen ganz neue Erfahrungen, die andere Schüler in ihrem Alter oder andere Gleichaltrige nicht machen. Der Horizont erweitert sich, sie sehen, dass manche Dinge auch anders laufen als in ihrer Heimat. Sie fragen sich, ob vielleicht andere Dinge besser in ihrem Leben sein könnten, die sie beobachten.
Vor allen Dingen machen sie natürlich auch neue Kontakte. Das haben wir auch beobachtet, dass das eine große Rolle für sie spielt. Was wir aber auch beobachtet haben, ist, dass die Kontakte ins Heimatland, zum Elternhaus und zu ihren Freunden, vor Ort nach wie vor wichtig sind.
"Hinterfragung und Reflexion der eigenen Identität"
Schulz: Und dann möglicherweise im Laufe eines Jahres immer weniger werden, also anfangs meldet man sich noch jeden Tag bei Mama und Papa, und dann irgendwann immer seltener?
Neyer: Ja. Also wir haben festgestellt, dass die Kontaktfrequenz schon sehr häufig ist, und das ist ja heute in Zeiten des Internets auch sehr viel mehr möglich als das früher beispielsweise der Fall war. Leider gibt es keine Daten darüber, wie solche Auslandsaufenthalte vor 20, 30 Jahren funktioniert haben, aber da war es ja vielleicht möglich, dass die einmal im Monat miteinander telefonierten oder sich gegenseitig Briefe schrieben, aber heute stehen sie ständig und täglich miteinander im Kontakt.
Also das ist schon gewährleistet und auch wichtig für die Jugendlichen, die ins Ausland gehen, aber die machen sich mehr Gedanken darüber, die reflektieren mehr über diese Beziehungen, und die haben nicht mehr so diese Selbstverständlichkeit wie für junge Erwachsene, die diese Kontakte ständig vor Ort haben. Das macht diese Entwicklungsprozesse so besonders, und diese Hinterfragung und Reflexion der eigenen Identität in Bezug auf diese Bereiche ist das, was wir so besonders finden bei den Jugendlichen und was sie wirklich voranbringt.
Schulz: Was folgern Sie denn insgesamt daraus? Wie entscheidend ist ein Auslandsjahr für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen? Müsste jeder so ein Auslandsjahr machen?
Neyer: Das würde ich nicht unbedingt so sehen. Wir haben ja auch festgestellt, dass die Jugendlichen, die ins Ausland gehen, verglichen mit den anderen, vorher schon ein bisschen anders sind in ihrer Persönlichkeit. Sie sind ein bisschen offener und ein bisschen extrovertierter und in Hinblick auf neue Erfahrungen, in Hinblick auf neuere Kontakte, und das prädestiniert sie irgendwie dafür. Das führt auch dazu, dass sie sich in diesen Eigenschaften noch weiter ausprägen, während sie im Ausland sind.
Das heißt jetzt nicht, dass introvertierte Schülerinnen und Schüler nicht ins Ausland gehen sollten oder können, aber man sollte hier sie besonders beraten und besonders eben auch auf die Schwierigkeiten verweisen, die sie vielleicht im Ausland bekommen können. Ich würde grundsätzlich sagen, nicht für jeden ist das unbedingt ratsam. Es muss immer zur Persönlichkeit des Einzelnen passen. Schülerinnen und Schüler, die nicht ins Ausland gehen, können sich natürlich auch gut entwickeln. Sie machen ja auch vor Ort wichtige Lebenserfahrungen, nur eben andere.
Schulz: Sagt Franz Neyer, er ist Psychologe an der Uni Jena, und er hat zusammen mit anderen Forschern untersucht, was ein Auslandsjahr mit Schülerinnen und Schülern anstellt. Herzlichen Dank, Herr Neyer!
Neyer: Gerne!
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