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Auslese kompakt
Bewusstsein für Gendermedizin schaffen

Seit Beginn der 1980er-Jahre erforscht die Gendermedizin, warum Frauenherzen anders ticken oder Männer bis zur Pubertät häufiger krank werden. In seinem Sachbuch "Frauen sind anders krank, Männer auch" plädiert Marek Glezerman dafür, diese Erkenntnisse endlich in die Praxis umzusetzen.

Von Marek Glezerman |
    Wartezimmer in einer Arztpraxis
    Frauen sollten anders als Männer behandelt werden - fordert die Gendermedizin. (Sina Schuldt/dpa)
    Frauen sind schmerzempfindlicher als Männer, sie zeigen andere Symptome bei einem Herzinfarkt und auch viele Medikamente wirken bei ihnen nicht so, wie bei Männern. Warum das so ist, erforscht die Gendermedizin seit Beginn der 1980er-Jahre. Was Forscher seitdem herausgefunden haben, erklärt Marek Glezerman in seinem kürzlich erschienenen Buch "Frauen werden anders krank, Männer auch". Neben den medizinischen Unterschieden zwischen Frauen und Männern nimmt er dabei auch die biologischen Besonderheiten des weiblichen und männlichen Geschlechts im Tierreich ins Visier. Zum Beispiel bei Mäusen.
    "Am Tag 11 nach der Befruchtung öffnet sich für etwa sechs Stunden eines der entscheidendsten Entwicklungsfenster im Leben eines Mäusefötus. Diese sechs Stunden bestimmen, ob die Maus phänotypisch als Männchen oder Weibchen geboren wird."
    Bei Schildkröten bestimmt die Temperatur bei der Ablage der Eier, ob daraus ein Männchen oder Weibchen schlüpft. Bei Menschen wiederum haben weibliche Embryonen bessere Chancen, im Mutterleib bis zur Geburt heranzureifen als männliche.
    Medikamente werden immer noch vorrangig an Männern getestet
    Viele dieser Fakten sind zwar bereits bekannt. Doch Marek Glezerman versteht es geschickt, sie anschaulich darzustellen und mit neueren Forschungsergebnissen zu untermauern. Gleichzeitig öffnet er den Blick des Lesers für eine neue Wahrnehmung der Geschlechter, deren Grenzen sich offenbar leichter verschieben lassen, als man gemeinhin denkt. Mit biologischen Fakten bringt der renommierte Experte für Gendermedizin zudem den biblischen Schöpfungsmythos ins Wanken.
    "Der Bibel zufolge hat Gott zuerst Adam geschaffen und später Eva. Genanalysen und die Entwicklung der Eierstöcke und Hoden legen jedoch nahe, dass es eher umgekehrt war. Ohne das Y-Chromosom und die Aktivierung des dort verankerten SRY-Gens würde ein menschlicher Fötus sich zur Frau entwickeln. Insofern könnte man den Mann als Sonderversion der Frau definieren."
    Der Autor beschreibt ausführlich, warum Frauenherzen anders "ticken" und Männer bis zur Pubertät häufiger krank werden. Es geht aber auch um die Frage, warum Medikamente vorrangig an Männern getestet werden und welche Rolle das Geschlecht spielt im Verhältnis von Arzt oder Ärztin zu ihrem Patient oder der Patientin.
    "Schweizer Forscher konnten belegen, dass Patienten an das Verhalten männlicher und weiblicher Mediziner unterschiedliche Erwartungen haben. Die Patienten waren nach dem Kontakt zufriedener, wenn die Ärzte gendertypische Verhaltensmuster gezeigt haben. Insbesondere von den Frauen wurde mehr Sozialkompetenz, Fürsorge und Empathie erwartet, sie sollten weniger bestimmend sein und kein übertriebenes Durchsetzungsvermögen an den Tag legen."
    Gendermedizin - noch nicht im Bewusstsein angekommen
    Marek Glezerman, ein Vordenker der geschlechterspezifischen Medizin, plädiert dafür, die Erkenntnisse der Gendermedizin endlich in die Praxis umzusetzen. Denn obwohl seit den 1980er-Jahren dazu geforscht wird, sei es noch nicht in den Köpfen aller Ärzte und Ärztinnen angekommen, dass Frauen anders behandelt werden sollten als Männer.
    "Damit die Gendermedizin in Praxen und Kliniken Einzug hält, müssen wir vor allen Dingen ein Bewusstsein schaffen. Mehr Bewusstsein kann politische Vorgaben bewirken. (…) Doch bis wir von einem vagen Bewusstsein zur konkreten Umsetzung kommen, muss noch viel passieren."
    Zielgruppe
    Männer und Frauen, die anschaulich geschriebene Sachbücher mögen und sich gerne zum Nachdenken anregen lassen.
    Erkenntnisgewinn
    Medizinisch gesehen ist der Mann eher eine Variation der Frau und nicht umgekehrt.
    Spaßfaktor
    Interessanter Einblick in die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Geschlechter.
    Marek Glezermann: "Frauen sind anders krank, Männer auch: Warum wir eine geschlechtsspezifische Medizin brauchen", Übersetzung Imke Brodersen
    Mosaik Verlag, hat 336 Seiten, 20,00 Euro