Es gibt Bücher, die ungelesen im Regal verstauben: Das wird der Essay-Sammlung "Meisterwerke der Naturgeschichte" von Herausgeberin Judith Magee nicht passieren. Und erst recht nicht den 36 Drucken historischer Illustrationen, die - fertig zum Rahmen - das Sahnehäubchen eines Buches sind, das anhand von Bildern die Geschichte der Wissenschaft veranschaulicht:
"Je länger ich die Natur beobachte, desto weniger bin ich geneigt, irgendeine Aussage über sie für unmöglich zu halten."
Erklärte Plinius, der Ältere vor rund 2000 Jahren. Und mit ihm - oder besser gesagt mit einer 1469 in Venedig gedruckten Ausgabe seiner "Naturalis Historia" - beginnt eine Zeitreise, für die Wissenschaftler und Bibliothekare 31 Werke aus dem Natural History Museum in London herausgesucht haben. Judith Magee schreibt:
"Das gemeinsame Merkmal dieser Bände sind ihre wunderbaren Illustrationen - Buchmalereien, Holzschnitte, Kupferstiche, Radierungen und Lithografien."
Eine außergewöhnliche Zeitreise
Gemeinsam ist ihnen noch etwas anderes: Sie spiegeln das Wissen ihrer Entstehungszeit wieder. An ihnen lässt sich nachvollziehen, wie sich aus antiken Werken über Jahrhunderte hinweg die moderne Forschung entwickelt hat. Ein Beispiel: der Ortus Sanitatis, 1491 von Jacob Meydenbach in Mainz gedruckt:
"Durch die Revolution des modernen Buchdrucks wurde indirekt auch die Entwicklung der Heilpflanzenkunde beeinflusst. Medizinisch Interessierte, wie Ärzte oder Apotheker, lieferten Anstöße für das Verlegen von Kräuter- und Arzneibüchern. In dieser Zeit begannen neue Illustrationen in Büchern aufzutauchen, die nach der Natur gezeichnet waren, statt aus antiken Werken kopiert worden zu sein."
Der Ortus ist ein Zeugnis dafür, wie sehr sich die Ideenwelt der Menschen damals von der heutigen unterschied: So stehen realistische gefertigte Pflanzenabbildungen neben Szenen, in denen ganz selbstverständlich ein Einhorn seinen Platz findet: Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie verschwimmen.
"Das 16. Jahrhundert brachte eine Zäsur im wissenschaftlichen Stil. Die Naturforscher gaben sich nicht mehr nur mit der reinen Beschreibung dessen zufrieden, was sie rundherum sahen, sondern begannen, die natürliche Welt zu erklären, zu überprüfen und zu klassifizieren."
Menschliche und tierische Hybriden
Einer dieser Naturforscher war Ulisse Aldrovandi aus Bologna: ein entschiedener Befürworter der direkten Beobachtung, der nur über das schrieb - und zwar, so genau es ihm möglich war -, was er selbst gesehen hatte. In seiner 13-bändigen "Opera omnia" gibt es jedoch ein Buch, das diesem Bestreben zu widersprechen scheint:
"In diesem Band finden sich Meerjungfrauen, siamesische Zwillinge, Tiere mit überzähligen Gliedmaßen, Zwerge, ein Zyklop, Harpyien und eine Reihe menschlicher und tierischer Hybriden, und sie alle werden von Aldrovandi beschrieben und kritisch untersucht."
Aldrovandi bietet Erklärungen an, versucht, Forschung gegen Mythen zu setzen und neue Wege jenseits antiker Gedankengebäude zu öffnen. Mit Ernst Haeckels "Kunstformen der Natur" endet schließlich eine ebenso interessante wie spannende Reise durch mehr als ein halbes Jahrtausend bebilderter Wissenschaftsgeschichte.
"Meisterwerke der Naturgeschichte" bietet dem Leser eine höchste gelungene Mischung aus reicher Bebilderung und unterhaltsamen Texten. Ein außergewöhnliches Buch.
Zielgruppe: Jeder, der sich für Bücher, Kunst oder Naturwissenschaften interessiert
Erkenntnisgewinn: Eine Zeichnung kann mehr sagen als tausend Fotos
Spaßfaktor: blättern, schauen, staunen
Judith Magee: "Meisterwerke der Naturgeschichte. Schätze aus der Bibliothek des Natural History Museums, London."
Haupt-Verlag Bern, Flexibler Essayband, 224 Seiten, 160 Illustrationen, 36 Drucken, 59,00 Euro, ISBN 978-3-258-07970-7
Haupt-Verlag Bern, Flexibler Essayband, 224 Seiten, 160 Illustrationen, 36 Drucken, 59,00 Euro, ISBN 978-3-258-07970-7