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Auslese | Neue Sachbücher
Wie Mathematik unser Leben prägt.

Unsere Zahlzeichen und das damit verbundene abstrakte Denken verdanken wir indischen Gelehrten. Thomas de Padova erzählt, wie dieses Wissen in der Renaissance Wissenschaft und Kunst revolutionierte. Der Mathematiker Kit Yates hingegen gibt Mathematik-Laien Rüstzeug für den Alltag an die Hand.

Ralf Krauter im Gespräch mit Dagmar Röhrlich und Michael Lange |
Abstrakte Illustration zweier Mädchen im Profil - im Kopf der einen ist eine intakte Zahlenkette von eins bis achtundzwanzig, im Kopf der anderen wirbeln die Zahlen durcheinander.
Zahlenspiele: Mathematische Zusammenhänge bestimmen den Alltag - auch wenn, wir davon meist nichts mitbekommen (imago / Ikon Images / Gary Waters)
Mathematische Zusammenhänge bestimmen unseren Alltag mehr als den meisten Menschen bewusst ist. Es gibt Formeln, die beschreiben, welche Bahnen die Gestirne ziehen, wie sich Viren um den Globus verbreiten und wie wahrscheinlich es ist, den idealen Partner zu finden. Es gibt Algorithmen, die das Wetter vorhersagen, die optimale Route berechnen und uns Bücher empfehlen. Und es gibt Alltagshelfer wie Computerprozessoren, Smartphones und das Internet, die ohne die Differenzialrechnung nie das Licht der Welt erblickt hätten. Doch wie und wann hielt das mathematische Denken Einzug in unseren Alltag? Wer waren die Wegbereiter der kulturellen Revolution, die dazu führte, dass alles Zahl wurde? Und was sollte heute jeder über Mathe wissen?

Zwei spannende Sachbücher, die Antworten liefern

Der Wissenschaftsjournalist Thomas de Padova zeichnet in seinem neuen Sachbuch "Alles wird Zahl: Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand" ein faszinierendes Bild jener Epoche im 15. und 16. Jahrhundert, in der Wissenschaftler und Künstler in Europa dem Reiz der Zahlen verfielen und die Weichen für die mathematische Beschreibung der Wirklichkeit stellten.
Der Mathematiker Kit Yates beschreibt in seinem Sachbuch "Warum Mathematik (fast) alles ist" ganz ohne Formeln, wie stark Mathematik unseren Alltag prägt, warum wir davon meist gar nichts mitbekommen und wie wir dennoch in allen Situationen den Durchblick behalten können.
Die Cover der neuen Sachbücher "Alles wird Zahl: Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand" von Thomas de Padova und "Warum Mathematik (fast) alles ist" von Kit Yates.
Kit Yates: Warum Mathematik (fast) alles ist
Eine Rezension von Michael Lange
Kit Yates reiht Geschichten aus dem Alltag oder aus den Medien hintereinander. Im Mittelpunkt stehen zum einen Zahlen oder mathematische Berechnungen, zum anderen persönliche Schicksale oder geschichtliche Katastrophen, wie der Abwurf der Atombombe über Hiroshima oder der GAU von Tschernobyl. Schnell wird klar: Es lohnt sich fast immer, den Zahlen auf den Zahn zu fühlen.

Zahlenspiele vor Gericht
In Gerichtsverfahren werden oft Statistiken verwendet, obwohl sie für den vorliegenden Fall keinerlei Relevanz haben. Die Zahlen täuschen eine absolute Wahrheit vor, die gar nicht existiert. So wurde im Fall des Todes zweier Säuglinge die Mutter der Kindstötung beschuldigt, weil es rein statistisch unwahrscheinlich sei, dass in einer Familie zwei Kinder an plötzlichem Kindstod versterben. Yates legt dar, dass man Wahrscheinlichkeiten nicht einfach multiplizieren kann, wie es ein Gutachter in diesem Fall gemacht hatte. Das ist nur statthaft, wenn zwei zufällige Ereignisse in keiner Beziehung zueinanderstehen, wie beim Würfeln. In der Medizin gibt es jedoch immer wieder Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Faktoren. So könnten auch in diesem Fall ähnliche Lebensumstände fatale Folgen gehabt haben.
Zwischen R-Wert und Herden-Immunität
Die Epidemiologie rückt heute immer stärker in den Mittelpunkt, der Medizin, aber auch in der Öffentlichkeit. Wir verdanken ihr viele Erkenntnisse. Kit Yates liefert in seinem Buch die Grundlagen zum Verständnis und erklärt viele epidemiologische Fachbegriffe, die im Jahr der COVID-19-Pandemie zum Allgemeingut geworden sind, wie R-Wert oder Herden-Immunität. Die Möglichkeiten, die Verbreitung von Krankheiten vorherzusagen, haben sich in den letzten Jahren dramatisch verbessert. Doch sind die Modelle, die die Ausbreitung von Krankheiten beschreiben, nur so gut, wie die Annahmen, auf denen sie beruhen. Wenn die Datengrundlage unvollständig ist, taugen die besten Modelle nichts. Auch hier gilt: Zahlen können wichtige Informationen liefern. Blindes Vertrauen jedoch ist unangebracht.
Kombination aus Lesen und Rechnen
Das Sachbuch von Kit Yates beinhaltet interessante, gut erklärte Rechenbeispiele. Es bietet viel Gelegenheit zum Nachrechnen und erfordert nur wenig mathematische Grundkenntnisse. Wer Freude hat an kleinen Spielereien mit Zahlen, ist hier richtig aufgehoben. Das ist kein Mathematikbuch, eher eine locker erzählte Geschichtensammlung aus der Welt der Alltagsmathematik, geeignet für Leser, die keine Angst vor Zahlen haben.
Warum Mathematik (fast) alles ist
… und wie sie unser Leben bestimmt
Von Kit Yates
Aus dem Englischen übersetzt von Monika Niehaus und Bernd Schuh
Piper Verlag, 352 Seiten, 20 Euro
Thomas de Padova - Alles wird Zahl. Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand.
Eine Rezension von Dagmar Röhrlich
Wer heute lebt, kann sich den Umbruch kaum vorstellen, der vor mehr als einem halben Jahrtausend von Italien seinen Ausgang nahm: der Übergang von den unbequemen und fürs Rechnen denkbar ungeeigneten römischen Zahlen mit ihren Buchstabenkolonnen zu den indisch-arabischen Ziffern von 0 bis 9. Es ist dieser Übergang, der Thomas de Padova in seinem Buch "Alles wird Zahl" interessiert.
Die Zeit: die Renaissance. Die Protagonisten: Denker wie Regiomontanus, Drucker und Kaufleute aus Venedig, Florenz, Rom oder Nürnberg und Künstler wie Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer. Sie waren es, die die europäische Mathematik aus ihren antiken Fesseln löste und ihr den Weg in die Neuzeit bahnten. Schließlich verhinderten die römischen Zahlen die Entwicklung der Mathematik als Wissenschaft.
Facettenreiches Buch über eine geistige Revolution
Wer angesichts des Titels ein Buch voller Rechenaufgaben und Formeln erwartet, der wird – je nach Geschmack – enttäuscht oder erfreut sein. Sie spielen eher am Rande eine Rolle. Vielmehr taucht Thomas de Padova in seinem erzählerisch opulenten Buch in die Gedankenwelt der Renaissance ein, um das Ausmaß des Übergangs zu erklären, der damit verbunden ist, dass aus IV 4 wird und aus X die 10.
Der Übergang von römischen zu indisch-arabischen Ziffern und die Einführung der 0 verlangte ein Maß an Abstraktion, das die Menschen erst erlernen mussten. Kein Wunder also, dass es – ob in Indien, im arabischen Raum oder dann in Europa – Jahrhunderte brauchte, ehe jeweils die alten Zahlensysteme von dem neuen vollkommen abgelöst worden waren.
Ein großes Lesevergnügen
Das lässt der Autor den Leser nachvollziehen. Auch, welche Möglichkeit sich eröffneten, als die christlichen Mathematiker das Wissen ihrer muslimischen Kollegen übernahmen. Oder dass die Zeit war reif für diesen Umbruch: Bei seiner Verbreitung half der Buchdruck, und ihre weltweiten Handelsbeziehungen machten die Kaufleute sozusagen zur Speerspitze der Entwicklung – übrigens durchaus gegen den Widerstand der Verwaltungen, die um ihre Kontrollmöglichkeiten fürchteten. Und die Maler, sie konnten durch die Mathematik und die Entdeckung der Zentralperspektive ganz neue Wege beschreiten. Deshalb nehmen Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer einen großen Teil des facettenreichen Buchs ein.
Thomas de Padova öffnet mit seinem Buch ein Fenster in die Zeit, als die Grundlagen für die spätere Entwicklung der modernen Wissenschaften gelegt wurden. "Alles wird Zahl" zu lesen, ist ein großes Vergnügen.
Alles wird Zahl.
Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand
Von Thomas de Padova
Hanser-Verlag, 384 Seiten, 25 Euro
Außerdem empfiehlt das Sachbuch-Trio folgende Bücher:
Was ist die Welt und wenn ja wie viele
Wie die Quantenmechanik unser Weltbild verändert
Von Sean Carroll
Aus dem Englischen übersetzt von Jens Hagestedt
Klett-Cotta-Verlag, 400 Seiten, 25 Euro

Der US-Physiker Sean Carroll ist überzeugt: Wenn man die Gesetze der Quantentheorie wirklich ernst nimmt, hat das viel weitreichendere Folgen für unser Weltbild als den meisten Menschen klar ist. Denn entgegen der gängigen Interpretation führt die Quantenmechanik dazu, dass sich die Welt mit jedem physikalischen Experiment aufspaltet in Parallelwelten, in denen jeder theoretisch mögliche Versuchsausgang auch tatsächlich beobachtet werden kann. Diese revolutionäre Viele-Welten-Interpretation der Quantentheorie existiert seit 1957, fand aber, trotz der Faszination, die sie ausübt, bislang nur wenige Anhänger. Sean Carrolls Buch ist ein sehr lesenswertes Plädoyer, sie endlich ernst zu nehmen und die Augen nicht weiter zu verschließen vor der bizarren Quantenrealität. (Ralf Krauter)
Die Natur der Zukunft. Tier- und Pflanzenwelt in Zeiten des Klimawandels
Von Bernhard Kegel
Dumont-Verlag, 384 Seiten, 24 Euro

Der menschgemachte Klimawandel beeinflusst die globale Natur schon heute: Korallen bleichen aus, Fische verhungern, Wälder verdursten. Immer weniger Insekten und Amphibien bevölkern unseren Planeten. Dennoch ist die Natur keineswegs nur ein hilfloses Opfer menschlicher Zerstörungswut. Bernhard Kegel beschreibt den Klimawandel nicht als große einheitliche Ökokatastrophe, sondern mit viel Sinn für Details, stets mit Blick auf die Evolution. (Michael Lange)
Deutschland 2050: Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird
Von Nick Reimer und Toralf Staud
KiWi-Paperback, 384 Seiten, 18 Euro

Spätestens der Dürresommer 2018 hat gezeigt, dass beim Klima unser jahrhundertealtes Erfahrungswissen nicht mehr viel wert ist. Also haben sich Nick Reimer und Toralf Staud gefragt, was das für uns bedeutet: Wie wird sich Deutschland 2050 verändert haben? Und die Aussichten sind ungemütlich, selbst falls der globale Temperaturanstieg "nur" zwei Grad betragen würde.

Ob Epidemien und Pandemien, der Zustand der Wälder und die Krisen der Landwirtschaft, ob Energieversorgung, Tourismus, Flüchtlingsströme – das Bild, das die beiden Autoren auf Grundlage von Forschungsberichten und Experteninterviews zeichnen, ist erschreckend. "Deutschland wird 2050 ein anderes Land sein – ein heißeres", heißt es gleich auf den ersten Seiten des Buches. Wer es liest, dem wird klar, dass es nicht der Klimaschutz ist, der in den kommenden Jahrzehnten unser Leben auf den Kopf stellt, sondern der Verzicht darauf. Und mit dieser Erkenntnis schließt das informative und eingängig geschriebene Buch, dessen Zeithorizont nicht der des Science-Fiction ist. Es geht nur um 29 Jahre – und damit um eine Zukunft, die schon begonnen hat. (Dagmar Röhrlich)