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Auslese: Vom Labor in die Klinik
mRNA, Genscheren und die Zukunft der Medizin

Spätestens seit der Corona-Pandemie ist die mRNA-Technologie in aller Munde. Ein neues Sachbuch widmet sich deren Aufstieg und der Hoffnung, damit viele Bereiche der Medizin revolutionieren zu können. Walter Isaccsons neues Buch hingegen beschreibt einen anderen medizinischen Hoffnungsträger: die Genschere Crispr/Cas.

Ralf Krauter im Gespräch mit Dagmar Röhrlich und Michael Lange |
Die Cover der neuen Sachbücher von Edda Grabar & Ulrich Bahnsen und Walter Isaacson.
Die Cover der neuen Sachbücher von Edda Grabar & Ulrich Bahnsen und Walter Isaacson. (Ralf Krauter, Deutschlandradio)
Bereits vor 20 Jahren versprachen Genforscher, ihre Arbeit könnte schon bald zu neuen Therapieansätzen für Krankheiten wie Aids, Krebs, Diabetes und Demenz führen. Mittlerweile stehen sie kurz davor, dieses Versprechen einzulösen. Die mRNA-Technologie, die der Welt im Rekord-Tempo wirksame Corona-Impfstoffe beschert hat, dürfte eine Schlüsselrolle dabei spielen, weil sie Medizinern ein mächtiges neues Werkzeug an die Hand gibt, um Leiden zu lindern. Und bei der Behandlung von Erbkrankheiten könnten bald schon spezielle Genscheren zum Einsatz kommen, die defekte DNA reparieren.
Zwei neue Sachbücher schildern den Vormarsch der neuen Verfahren vom Labor in die Klinik und loten die Chancen und Risiken von mRNA-Medikamenten und CRISPR-Gentherapien aus.

Edda Grabar und Ulrich Bahnsen : Das Ende aller Leiden. Wie RNA-Therapien die Behandlung von Krebs, Herzkrankheiten und Infektionen revolutionieren
Eine Rezension von Dagmar Röhrlich

Der 27. Juni 2020 war ein Samstag. Mitten in der Covid-19-Krise. Der Kardiologe und Genetiker Sekar Kathiresan hält einen Vortrag auf der virtuellen Tagung der International Society for Stem Cell Research und stellt darin die Blutwerte von 13 Makaken vor. Die niedrigen Fett- und Cholesterin-Spiegel der Tiere sind bemerkenswert, weil sie die Werte einem einmaligen Eingriff in ihr Erbgut verdanken. „Once and done“, so formuliert es Sekar Kathiresan. Er ist Chef der amerikanischen Biotech-Firma Verve Therapeutics. Sie wurde gegründet, um eine erblich bedingte Fettstoffwechselstörung besiegen, die zu Herzinfarkten führt. Dafür setzt er auf eine neue Technologie, das sogenannte Base-Editor-Verfahren, bei der einzelne fehlerhafte Bausteine im Erbgut durch die richtigen ersetzt werden. In die richtigen Zellen gelangen diese Base-Editors in Form von Messenger- und Lotsen-RNA – ganz ähnlich wie bei den inzwischen weltbekannten mRNA-Impfstoffen. 

Die RNA, die Ribonukleinsäure, steht im Mittelpunkt eines Buchs, das die Wissenschaftsjournalisten Edda Grabar und Ulrich Bahnsen geschrieben haben: „Das Ende aller Leiden“ erklärt dem Leser den Aufstieg dieses lange von vielen Forschern unterschätzten Moleküls zum Hoffnungsträger bei der Behandlung aller möglichen Krankheiten von Grippe über Krebs bis hin zu Malaria oder Aids.

Die Covid-19-Impfung: Der erste große Schritt

Die Ribonukleinsäure ist das Arbeitspferd in den Zellen: Sie sorgt dafür, dass die in der DNA gespeicherten Information in die lebensnotwendigen Eiweiße umgesetzt werden. Dabei gibt es sehr viele verschiedene Typen von Ribonukleinsäure, die alle möglichen Funktionen ausführen. Je mehr Wissenschaftler über sie und das komplexe Zusammenspiel in den Zellen lernen und je besser sie diese Biomoleküle „programmieren“ können, umso größer scheinen die Möglichkeiten zu sein, die die RNA-Medizin eröffnet.

Die Covid-19-Impfung ist da wohl nur ein erster großer Schritt. Hinter diesem Erfolg stehen viele Jahre an mühsamer Forschung, in denen die Protagonisten wie Özlem Türeci, Ugur Sahin, Ingmar Hoerr oder Katalin Karikó mit Frustrationen und Misserfolgen fertig werden mussten. So unvermutet aus dem Nichts wie es der Öffentlichkeit erscheint, ist die mRNA-Impfung nicht aufgetaucht. Dahinter steht eine lange Geschichte. Und die Autoren beschreiben diesen verschlungenen Weg zum Erfolg – und wie es weitergehen könnte.

Ein Buch voll Enthusiasmus und Optimismus

Edda Grabar und Ulrich Bahnsen beginnen dabei mit Francis Crick, James Watson und der DNA-Helix. Sie erzählen von der Substanz X, die die Gen-Information übernehmen und zu den Ribosomen transportieren sollte, damit dort das entsprechende Eiweiß zusammengebaut werden kann – und wie diese Substanz als RNA identifiziert wurde. Sie schreiben, wie lange sie noch im Schatten der DNA stand, bis sich schließlich ihre Bedeutung herausstellte – und damit die Chancen, die sie eröffnet.

Die Autoren sind enthusiastisch, wenn es darum geht, wie RNA im Kampf gegen seltene Krankheiten fehlerhafte Gene reparieren könnte oder das Immunsystem gegen Erreger oder Krebszellen in Stellung bringen. Dabei erzählen sie viele Anekdoten, etwa, wie eine Glatze bei der Patentanmeldung helfen kann oder wie hart die Bandagen sind, mit denen Pharmakonzerne und Start-ups kämpfen. Sie schreiben aber auch über die Misserfolge wie der Gentherapie gegen die Duchenne-Muskeldystrophie und welche unrühmliche Rolle in den USA Pharmaunternehmen, Patientenverbände und Politik bei der Zulassung eines anscheinend wirkungslosen aber dafür risikoreichen Präparats gespielt haben.

Eine Revolution für die Medizin

Das ist alles sehr spannend geschrieben und man kann sich regelrecht festlesen – auch wenn die Autoren für Laien manchmal zu tief in die Materie eintauchen. Manches wäre dann besser in einer Fußnote verschwunden, und manchmal sagt eine Grafik mehr als tausend Worte. Aber das sollte keinen Leser abhalten, man findet immer wieder leicht hinein. Ob der Optimismus der beiden der Realität standhalten wird, das zeigt die Zukunft. Sicher ist, dass RNA-Therapien das Zeug haben, in vielen Bereichen die Medizin zu revolutionieren.
Das Ende aller Leiden
Wie RNA-Therapien die Behandlung von Krebs, Herzkrankheiten und Infektionen revolutionieren
Von Edda Grabar & Ulrich Bahnsen
Quadriga-Verlag Köln, 272 Seiten, 20 Euro
Eine computerbasierte Darstellung der Genschere Crispr.
Eine computerbasierte Darstellung der Genschere Crispr. (imago/Science Photo Library)

Walter Isaacson: Der Codebreaker. Wie die Erfindung der Genschere die Zukunft der Menschheit für immer verändert
Eine Rezension von Michael Lange

Selten sorgte eine neue Labormethode für so viel Diskussionsstoff, wie die Genschere Crispr/Cas. Mit diesem neuen Werkzeug können Genforscher biologische Erbinformation gezielt verändern: Schnell, einfach und preiswert. Der Historiker Walter Isaacson erweist sich mit diesem Buch erneut als Spezialist für leicht lesbare, detailgetreue Biografien. Im Mittelpunkt steht dabei weniger die Wissenschaftlerin Jennifer Doudna, sondern die Genschere selbst.

Die Genschere ist der Star

Mit Biografien von Albert Einstein, Leonardo da Vinci und Steve Jobs hat sich der US-Historiker Walter Isaacson einen Namen gemacht. Stets nach dem gleichen Rezept gelingt es ihm, das Leben und die Gedankenwelt verschiedener Geistesgrößen für Millionen Leser nachvollziehbar und erlebbar zu machen. Und so beginnt auch „Der Codebreaker“ mit Schilderungen aus der Jugendzeit eines Stars der Wissenschaft.

Zum ersten Mal ist es eine Frau, deren Leistungen für die Wissenschaft von Walter Isaacson dargestellt und gewürdigt werden: Jennifer Doudna. Isaacson beschreibt ihre Jugendzeit auf Hawaii, ihr Leben als Außenseiterin und ihren zielstrebigen Weg in die Wissenschaft. Immer wieder unterbricht er ihren Lebenslauf mit Rückblicken in die Geschichte der Genetik: Von Charles Darwin über Watson und Crick bis zur Genom-Entzifferung. 

Doch das Konzept verändert sich im Laufe des Buches. Jennifer Doudna ist zwar eine spannende Persönlichkeit und eine hervorragende Wissenschaftlerin; aber sie allein hat keinesfalls die wissenschaftliche Genetik revolutioniert. Der Star, der die Welt verändern wird, ist letztlich die Genschere selbst mit dem obskuren Namen Crispr/Cas. Die Erfinderin, wenn es denn eine gibt, ist die Natur. Oder genauer gesagt: Die einzelligen winzigen Organismen, die mit der zielgenauen Genschere ihre Feinde, die noch winzigeren Viren, bekämpfen.

Von der Teamarbeit zum Wettbewerb

Viele Wissenschaftler haben dazu beigetragen, das Crispr-Rezept aus der Natur abzuschauen und daraus eine Technik zu entwickeln. Sorgfältig beschreibt Isaacson die Rolle der einzelnen Crispr-Pioniere, die schon vor Jennifer Doudna in Bakterien die Genschere untersuchten. Auch Doudnas Kooperationspartnerin Emmanuelle Charpentier sowie Doudnas Mitarbeiter Martin Jinek, Blake Wiedenheft und Rachel Haurwitz kommen nicht zu kurz und werden in kleinen Charakterstudien beschrieben. Dabei wird klar: Die Funktion der Genschere wurde im Team erforscht.

Auch mit anderen Arbeitsgruppen arbeitete die Arbeitsgruppe um Jennifer Doudna zusammen. Doch bald wurde aus Zusammenarbeit Konkurrenz. Während anfangs alle Mitstreiter freigiebig Informationen austauschten, sorgte der Kampf um Ruhm und Patente zunehmend für Konflikte. Jennifer Doudna ging diesem Wettbewerb keinesfalls aus dem Wege. Walter Isaacson spart die Unstimmigkeiten nicht aus, und beschreibt sie nicht nur aus Sicht von Jennifer Doudna. Auch ihre Konkurrenten Feng Zhang und George Church kommen zu Wort, und stellen ihre Sicht dar.

Zukunft der Genschere

Unterdessen geht die Crispr-Technik ihren eigenen Weg. Während Ethiker vielstimmig debattieren, schafft der junge chinesische Wissenschaftler He Jankui Fakten. Er verändert das Erbgut zweier Mädchen, um sie vor dem Aidserreger HIV zu schützen.

In allen Einzelheiten schildert Isaacson die Abläufe und analysiert die ethische Debatte. Sorgsam sortiert er die Argumente. In Gedankenexperimenten gibt er seinen Lesern die Möglichkeit, selbst eine Position zu finden. Was kann die Genschere leisten und was wollen wir?

Walter Isaacson hat ein Buch geschrieben, das weit mehr ist als eine klassische Biografie. Auf über 600 Seiten verfolgt es viele einzelne Fäden und verknüpft sie zu einer großen Geschichte. „Der Codebreaker“ beschreibt äußerst sorgfältig und gut verständlich die Entwicklung der Genschere Crispr/Cas und entwirft aus den gewonnenen Erkenntnissen eine Zukunft, die niemandem egal sein sollte. Ein wichtiges Buch.
Der Codebreaker
Wie die Erfindung der Genschere die Zukunft der Menschheit für immer verändert
Von Walter Isaacson, aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Müller
Ecowin, 704 Seiten, 36 Euro 

Außerdem empfiehlt das Dlf-Sachbuchtrio:

E=mc2
Eine sehr kurze Einführung in die Relativitätstheorie
Von Christophe Galfard, aus dem Englischen übersetzt von Ursula Held
C.H. Beck Verlag, 85 Seiten, 10 Euro

Eine Rezension von Ralf Krauter

Der Astrophysiker Christophe Galfard schrieb seine Doktorarbeit beim berühmten Stephen Hawking im englischen Cambridge. 2016 veröffentlichte er ein Sachbuch, das weltweit zum Bestseller wurde. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Das Universum in deiner Hand“ erschien 2018 bei C.H. Beck und zählte wochenlang zu den meistverkauften Sachbüchern. An den Erfolg von damals will der Verlag jetzt anknüpfen und hat ein weiteres Werk des französischen Physik-Erklärers übersetzt, das 2017 im Original erschienen ist. Der Titel ist Programm: E=mc2. Es geht um die berühmteste Formel aller Zeiten. Jene Formel, die Albert Einstein zu Weltruhm verhalf - die Quintessenz seiner speziellen Relativitätstheorie von 1905.

Christophe Galfards Ziel ist es, den Ursprung und die Bedeutung dieser Gleichung für Laien verständlich und ohne Formelkram auf 85 Taschenbuchseiten zu erklären. Kann das funktionieren – wo die Relativitätstheorie doch primär auf mathematischen Ableitungen und Folgerungen über die Natur von Raum und Zeit beruht? Der Autor beweist, dass es geht und liefert eine sehr lesenswerte und bemerkenswert kompakte Einführung in die Thematik. Mit besonderem Gewinn dürften sie vor allem naturwissenschaftlich wenig vorbelastete Leser verschlingen. Denn so anschaulich und niederschwellig werden Albert Einsteins revolutionäre Gedanken und ihre Folgen für unser Weltbild sonst nur selten erklärt. E=mc2: alles, was man als Laie darüber wissen sollte, steht in diesem Buch – von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit über das neue Konzept von Raum und Zeit bis zur Physik der Atombombe.
How the World Really Works
A Scientist's Guide to Our Past, Present and Future
Von Vaclav Smil
Penguin Books UK / Viking,  336 Seiten, 25.60 Euro

Eine Rezension von Dagmar Röhrlich

Noch nie standen uns so viele Informationen zur Verfügung, und trotzdem wissen die meisten von uns nicht, wie die Welt wirklich funktioniert. Das will Vaclav Smil, Professor für Umweltwissenschaften an der Universität von Manitoba in Winnipeg, mit seinem neuesten Buch ändern. Darin erklärt er sieben grundlegende Realitäten, die unser Überleben und unseren Wohlstand bestimmen:. Von der Energie- und Nahrungsmittelproduktion über unsere materielle Welt und ihre Globalisierung bis hin zu Risiken. „How the World Really Works“ ist ein lesenswerter und aufschlussreicher Realitätscheck. Denn – so die Überzeugung des Autors – bevor wir Probleme lösen können, müssen wir die Fakten verstehen.
Beim nächsten Wald wird alles anders
Das Ökosystem verstehen
Von Hans Jürgen Böhmer
Hirzel-Verlag, 208 Seiten, 24 Euro

Eine Rezension von Michael Lange

Wenn es nach den Szenarien einiger Untergangspropheten ginge, wäre der Wald längst aus unserer mitteleuropäischen Landschaft verschwunden. Nach Ansicht von Hans Jürgen Böhmer hat der „Alarmismus“ der 1980er dem Wald nicht geholfen. Er plädiert für einen sachlichen Blick auf die Entwicklung der Wälder. Demnach waren Luftschadstoffe nur regional für ihr Dahinsiechen verantwortlich. Stattdessen sorgten Trockenheit und Fehler der Forstwirtschaft für deren schlechten Gesundheitszustand. Böhmer ist kein zweiter Peter Wohlleben. Ihm fehlt die emotionale Sicht auf den Wald, die Wohlleben auszeichnet. Seine Perspektive ist weniger die eines Waldfreundes, als die eines analytischen Wissenschaftlers und ist deshalb lesenswert.