Ich glaube, dass die Menschen den Ausnahmezustand nicht respektieren werden, und spontan auf die Straße gehen, wie gerade jetzt auch. Ich nehme an, die Regierung wird die Maßnahme bald zurücknehmen müssen.
Seit längerem schon blockieren Arbeitslose regelmäßig die Autobahnen. Es sind die Armen aus dem ehemaligen Industriegürtel der Stadt - Menschen, die seit Jahren arbeitslos sind. Piqueteros (sprich: piketéros), Streikposten, nennen sich diese Arbeitslosen. Streikende, die keine Arbeit haben. Die piqueteros wissen, dass normalerweise nur die arbeitende Bevölkerung ihren Betrieb bestreikt. Die Arbeitslosen, so sagen sie, bestreiken eben die Straße. Seit Monaten nehmen die Proteste ständig zu, und jetzt haben sie ihren Höhepunkt erreicht. Im ganzen Land sperren verzweifelte Menschen die Straßen, in vielen Städten werden täglich die Supermärkte geplündert, und die Armen haben endlich die geballte Aufmerksamkeit der Presse. Das Problem ist schlicht und einfach Hunger, sagt Martín, 22 Jahre alt, ein großer Mann in einem verschlissenen Trainingsanzug:
Ich habe keine Arbeit. Ich habe bei einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als Straßenkehrer gearbeitet, aber selbst das wurde gestrichen, und das waren sowieso nur 160 Pesos pro Monat. Es reichte nicht, um Strom, Wasser und Gas zu bezahlen. Ich habe einen sechs Monate alten Sohn, und ich muss ihm Windeln kaufen. Außerdem muss ich noch meinen Vater versorgen, einen 60jährigen Witwer, und meine Frau natürlich. Wir kämpfen ums Überleben. Ich gehe jeden Tag auf die Straße, um irgendwelche Gelegenheitsarbeiten zu finden, als Tagelöhner, egal was, denn sonst - hier in diesem Land geht nichts mehr.
Die regierende Koalition von Radikalen, - etwa vergleichbar mit Sozialdemokraten -, und der Frepaso - einer gemäßigt linken Gruppierung - , hatte bisher die Taktik verfolgt, die Protestierenden als Ruhestörer und Krawallmacher zu bezeichnen. Präsident Fernando de la Rúa hat nun den Ausnahmezustand erklärt; auf einen Monat begrenzt. Aber die Armen, die Supermärkte plündern, um wenigstens an Weihnachten genug zu essen zu haben, sind nur ein Teil des Problems. Wegen der neuesten Sparmaßnahmen hat die Regierung auch die Mittelklasse gegen sich. Seit Anfang Dezember sind alle Bankkonten strikten Beschränkungen unterworfen. Niemand darf mehr als 250 Pesos, das sind umgerechnet rund 400 DM, pro Woche in bar von seinem Konto abheben. Es ist schon abzusehen, dass die Konten bald völlig eingefroren werden. Deswegen stehen nicht nur die Arbeitslosen und Armen auf den Barrikaden, sondern auch die Mittelklasse, die um ihr Erspartes fürchtet.
Dies war eingeführt worden, um den drohenden Zusammenbruch der Banken zu verhindern, nachdem täglich Millionen von Dollar aus dem Finanzsystem abflossen. Das Land hat ohnehin schwere finanzielle Probleme. Die internationalen Finanzinstitutionen wollen Argentinien keine Kredite mehr geben, oder höchstens unter der Bedingung noch strikterer Sparprogramme. Wirtschaftminister Domingo Cavallo zwang in den vergangenen Wochen der Bevölkerung jeden Tag eine neue Sparmaßnahme auf - Einschränkung der Bankkonten, Weihnachtszulagen gestrichen, Förderungsmaßnahmen für die Kleinindustrie gekappt und so weiter. Doch jetzt ist die Geduld der Menschen zu Ende - die Hungernden plündern die Supermärkte, und im ganzen Land gehen die Leute auf die Straße, die meisten spontan und unorganisiert. Wirtschaftsminister Cavallo, Symbol der neoliberalen Wirtschaftspolitik, ist auf Druck der Bevölkerung zurückgetreten, Auftakt für den mittlerweile erfolgten Rücktritt der ganzen Regierung. Wortführer der Proteste sind Arbeitslosen-Organisationen und eine linke Gewerkschaft. Die großen Parteien Argentiniens haben beim Volk ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt.
Hintergrund der Proteste ist die Welle von rigorosen Sparpaketen, die die Regierung unter Präsident Fernando De la Rúa verabschiedet hat. Ziel ist die Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit mittels einer so genannten Null-Defizit-Politik - der Staat will nicht mehr Geld ausgeben, als er einnimmt. Um das zu erreichen, sind Gehälter und Renten radikal gekürzt worden. Jetzt ist auch noch die Weihnachtszulage gestrichen worden, und man kann nicht einmal beliebig auf sein Erspartes zurückgreifen. Weil Gehälter nicht mehr wie sonst bar ausgezahlt, sondern über die Bank überwiesen werden, kann die Regierung mehr Steuergelder einstreichen. Sie unterbindet so auch die Schwarzarbeit. Darauf, dass nun alle Zahlungen plötzlich auf einen Schlag über die Banken abgewickelt werden sollen, sind die Banken nicht eingestellt - für eine simple Überweisung, beispielsweise, muss man mindestens zwei Stunden in der Schlange stehen -. Die argentinische Gesellschaft ist darauf nicht vorbereitet, es entspricht nich ihrer bisherigen Tradition. Rund 40 Prozent der Menschen arbeiten schwarz. Der nun erfolgte Zwang zur Legalisierung aller Zahlungen über die Banken hat damit weite Teile der Bevölkerung von der Zahlungskette abgeschnitten.
Ein Beispiel: Ein beliebiger Wohnungsbesitzer will dieser Tage seine Wohnung anstreichen lassen. Der Anstreicher arbeitet natürlich schwarz. Der Wohnungsbesitzer hat aber nicht mehr genug Bargeld, um den Mann zu bezahlen. Über die Bank kann er nicht zahlen, da der Anstreicher ja offiziell gar nicht arbeitet. Also wird er seine Wohnung lieber nicht streichen lassen, und der Anstreicher hat keinen Auftrag mehr. Gerade vor Weihnachten kocht da die Volksseele. Die Bevölkerung ist empört, quer durch alle Schichten, so sehr, dass im Zuge der gewalttätigen Proteste dieser Tage der Kongress die Bargeldbeschränkung wieder aufheben will. Doch die Regierung sagt, ihr bliebe keine Wahl, sie müsse sparen: Argentinien hat rund 130 Milliarden Dollar Schulden und ist im Prinzip zahlungsunfähig, auch wenn die Regierung dies nicht zugibt. Die düstere Situation erläutert der Ökonom Ricardo Fuente von Ecolatina Consulting:
Argentinien leidet seit drei Jahren unter einer Rezession. Dafür gibt es externe und interne Gründe. Zu den externen Gründen gehören die verschiedenen Finanzkrisen, wie etwa in Südostasien, Russland, die Abwertung der brasilianischen Währung. Zu den internen Gründen gehört der Wechselkurs: Der Peso ist eins zu eins fest an den Dollar gekoppelt. Man hätte für einen ausgeglichenen Haushalt sorgen sollen, vor allem, als viele Staatsunternehmen privatisiert wurden und das Geld aus diesen Privatisierungen dem Staat zur Verfügung stand. Leider wurde das im vergangenen Jahrzehnt nicht gemacht. Es gab immer ein Defizit, und wenn man dabei einen Eins-zu-eins-Wechselkurs der lokalen Währung zum Dollar hat, bleibt als einzige Möglichkeit, um das Haushaltsloch zu stopfen, die Aufnahme von Schulden. Das heißt, jetzt stehen wir vor folgendem Panorama: Absolut gesehen, hat Argentinien keine so hohen Schulden - es sind etwa 50, 55% des Bruttoinlandprodukts -, das sind weniger Schulden, als sie viele europäische Länder haben. Aber Argentinien hat einen ungeheuren Berg von Zinsen, die abzuzahlen sind. Mehr als 20 Prozent des Haushalts muss für die Zahlung der Zinsen aufgebracht werden.
Fast ein Viertel aller Auslandsschulden der Schwellenländer entfallen auf Argentinien. Wenn man die Schulden der Zentralregierung und der Provinzen zusammenrechnet, schuldet das Land Geldgebern im In- und Ausland sogar rund 165 Milliarden Dollar.
Die unseriöse Finanzpolitik begann mit der Militärregierung zwischen 1976 und 1983. Vor dem Putsch schuldete Argentinien dem Ausland acht Milliarden Dollar; am Ende waren es 45 Milliarden Dollar. Allein zehn Milliarden davon gaben die Militärs für Waffenkäufe aus. Damit begann die Spirale: Um die fälligen Zinsen zu zahlen, nahmen die nachfolgenden demokratischen Regierungen neue Kredite zu immer ungünstigeren Bedingungen auf. In den 90er Jahren unter dem früheren Präsident Menem stiegen die Schulden auf 145 Milliarden Dollar.
Der amtierende Präsident Fernando De la Rúa steckt nun in der Klemme. Die vor Jahren aufgenommenen Schulden werden fällig, aber die Staatskasse ist leer. Und dieser Tage ist die Zahlungsunfähigkeit im Prinzip eingetreten. Der Ökonom Claudio Lozano erläutert die Krise des Landes:
Wir stehen vor der Krise des Wirtschaftssystems, das während der Diktatur eingeführt wurde, und das heute ernste Probleme hat, einen Konsens in der Gesellschaft zu finden. Das zeigt sich in drei grundlegenden Punkten: Erstens, was die Wirtschaft betrifft, sehen wir einen Kollaps, nämlich die Zahlungsunfähigkeit. Zweitens erleben wir einen Kollaps der Produktion, der sich im Prozess der De-Industrialisierung äußert, das ist ein langfristiger Stillstand der Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das wir heute hier haben, ist acht Punkte niedriger als Mitte der 70er Jahre. Hinzu kommt, dass wir in den letzten drei Jahren eine ununterbrochene Rezession haben. Drittens beobachten wir einen Kollaps des sozialen Gefüges, da rund 40 Prozent der Bevölkerung arm sind.
In den Dörfern ist die Situation desolat, erzählt Inés Borda, eine Hausangestellte aus der Provinz Entre Rios im Nordosten des Landes:
Auf dem Land ist die Lage noch schlimmer. Die, die keine Arbeit haben, können zwar ein bisschen Gemüse hinterm Haus pflanzen und ein paar Tiere halten, aber die Tiere werden oft gestohlen. Die Schafe oder Hühner werden von den Räubern sofort geschlachtet, - einfach, weil die Menschen Hunger haben. Mein Vater lebt in einer Gegend, wo Mandarinen und Orangen wachsen. Aber die Arbeiter, die auf diesen Plantagen arbeiten, bekommen höchstens 10 Pesos - rund 20 DM - pro Woche, und davon kann man nicht leben. Und so fangen die Leute an zu stehlen. Ich will das nicht entschuldigen, aber die Menschen stehlen, um etwas zum Essen zu haben.
Die Rentenkasse ist pleite, und seit letzter Woche können die meisten Rentner keine ärztliche Behandlung mehr bezahlen. Kranke, alte Menschen bekommen keine Medikamente mehr - außer, sie sind privat versichert. Doch die meisten Argentinier können sich eine private Krankenversicherung nicht leisten. Aber das öffentliche Gesundheitssystem ist am Rande des Zusammenbruchs, weil das Geld fehlt. Zur einer Behandlung in einem öffentlichen Krankenhaus muss man alles selber mitbringen - Watte, Spritzen, Impfstoff. Um einen Termin am selben Tag zu bekommen, muss man sich morgens ab vier Uhr in eine Schlange stellen, dann kommt man mittags vielleicht an die Reihe. Die Ärzte tun, was sie können, aber die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, sind unerträglich, wie Inés Borda selbst erlebte:
Einmal brachte ich meine dreijährige Tochter ins Krankenhaus. Man untersuchte sie in einem kleinen Zimmerchen zwischen zwei Sälen, die voller kranker Kinder waren - vielleicht sogar mit ansteckenden Krankheiten, wer weiß. Vier Kinderärzte behandelten parallel eine ganze Schlange von Kindern; es waren so viele Leute und Lärm in dem Zimmer, dass ich nicht mal verstehen konnte, was die Kinderärztin mir über meine Tochter sagte. Es war einfach unmöglich. Vier Kinderärzte gleichzeitig in einem winzigkleinen Raum mit all den Kindern, man konnte kein Wort verstehen.
Argentinien ist ein reiches Land, mit riesigen landwirtschaftlichen Flächen und verhältnismäßig wenig Menschen; es produziert Fleisch, Weizen, Soja, Obst. Es hat genug Vorräte an Süßwasser und eine ausgedehnte Küstenlinie für den Fischfang im Atlantik. Das Land hat Bodenschätze wie Öl und Erdgas. Was geschieht mit diesen natürlichen Reichtümern? Wer verdient an ihrem Verkauf? Wieso leiden die Menschen Hunger in einem Land, das Fleisch, Getreide und Erdöl exportiert? Der Generalsekretär der Gewerkschaft CTA, Victor de Gennaro, vermisst gesunden Menschenverstand, aber er weiß, dass es um Macht geht.
Wenn das Land reich ist, wenn es genug Arbeit gibt, wenn es genug Geld gibt, dann muss das eben sinnvoll verteilt werden. Und die großen Unternehmen dürfen das Land nicht ausplündern. Hier gibt es viele, die viel verdienen. Das privatisierte Erdölunternehmen Repsol/YPF verdient 1200 Dollars pro Minute! Die spanische Telefongesellschaft Telefónica hat hier viermal mehr Gewinn als in Spanien, und es gibt noch viele Beispiele mehr. Manche Leute behaupten, der Staat habe sich völlig zurückgezogen und existierte kaum mehr. Das stimmt nicht, der Staat funktioniert, nur schützt er jetzt andere Gruppen: Nicht mehr die Bevölkerung, sondern große wirtschaftliche Gruppen.
Die Erdölfirma und die Telefongesellschaft, die der Gewerkschaftsführer erwähnt, wurden in den 90er Jahren unter der früheren peronistischen Regierung privatisiert. Der Verkauf war Teil der Bedingungen, die der Staat erfüllen musste, um Kredite von den internationalen Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds IWF zu bekommen. Zur verlangten Umstrukturierung des Landes gehörten der Abbau des Staatsanteils an der Wirtschaft, der Abbau von Sozialleistungen, die Öffnung der Grenzen für ungehinderte Importe, um einige Beispiele zu nennen. Argentinien war ein Musterschüler des IWF, das Vorzeigeland des Neoliberalismus, das alle Vorgaben sorgfältig erfüllte. Der Haken war, dass die Gelder, die durch die Privatisierungen der staatlichen Unternehmen ins Land kamen, nicht investiert, sondern zur Schuldentilgung verwendet wurden. Ein Teil wanderte auch in die Taschen der Vermittler der Geschäfte. Der Ökonom Ricardo Fuente, von einer der wichtigsten Beratungsfirmen in Argentinien, warnt vor dieser rücksichtslosen Politik:
Ich glaube schon, dass es an der Zeit ist, die Strukturen zu sanieren, aber man muss ständig abwägen zwischen den Interessen der Bevölkerung und den Interessen der Märkte. Es ist offensichtlich, dass bisher immer die Interessen des Finanzsektors sich durchgesetzt haben, mit sehr hohen Kosten für die Bevölkerung und vor allem für die Armen. Dieses Modell der letzten zehn Jahre, in denen es durchaus auch Wirtschaftswachstum gegeben hat, hat die Einkommensverteilung völlig ungerecht polarisiert. Das heißt, die Reichtümer konzentrieren sich in den Händen von immer weniger Personen, und es gibt immer mehr Menschen, die sich unter der Armutsgrenze befinden.
Die Schere zwischen Armen und Reichen klafft in Argentinien immer weiter auseinander. Doch das Problem ist nicht nur, ob man eine Arbeit findet. Wenn man eine hat, ist die Frage, ob man mit Geld oder mit Gutscheinen bezahlt wird. Die meisten Provinzen sind de facto bankrott. Bisher weigert sich die Regierung, den Peso abzuwerten. Da die Provinzregierungen kein Geld drucken können, um ihre Angestellten zu zahlen, geben sie Gutscheine aus, also praktisch eine Parallelwährung.
Andrés Harfuch arbeitet als Pflichtverteidiger beim Gericht in der Provinz Buenos Aires. Seit August bekommt er nur noch zehn Prozent seines Gehaltes in Geld ausgezahlt, den Rest in Gutscheinen. Doch viele Geschäfte akzeptieren die Gutscheine nicht. Der junge Anwalt zeigt sein Gehalt - er steht da mit einem Bündel Papier in der Hand, das aussieht wie Spielgeld. Mit den Gutscheinen kann man bei einer Privatbank einen Kredit nicht abstottern, auch Medikamente können nicht damit bezahlt werden.
Neulich habe ich meinen Arzt gefragt: "Herr Doktor, womit soll ich denn jetzt zahlen?" Und er antwortete: "Keine Sorge, ich muss einige Steuern in der Provinz für ein Stück Land bezahlen, die kann man mit Gutscheinen bezahlen. Geben Sie mir also Gutscheine." So geht es die ganze Zeit; alle Leute checken, wie sie damit umgehen können. Einige Geschäfte sind so verzweifelt, dass sie die Gutscheine ein-zu-eins akzeptieren, damit überhaupt Kunden kommen.
Argentinien war eines der wenigen Länder in Südamerika, in denen es eine breite Mittelschicht gab. Sie verschwindet aber zunehmend. Die untere Mittelschicht findet sich zu ihrem eigenen Erstaunen bei den Armen wieder. Alle, die noch Arbeit haben, wissen, dass sie nun darum kämpfen müssen. Andrés Harfuch erzählt von der Atmosphäre in der Justiz:
Es ist lustig zu beobachten, wie 60-, 70jährige ultrakonservative katholische Richter sich plötzlich in professionelle Agitatoren verwandeln. Sie glaubten, sie würden von den Sparprogrammen niemals berührt werden; sie dachten wohl, sie wären immun gegen die allgemeinen Probleme. Diese Situation hat sie aufgerüttelt.
Die argentinische Regierung befindet sie sich in einer praktisch unlösbaren Zwickmühle: Auf der einen Seite stehen die Gläubiger, - Banken, der Internationale Währungsfond, die US-amerikanische Regierung -, die den argentinischen Staat zu weiteren Kürzungen bei den Sozialausgaben verpflichtet haben. Und auf der anderen Seite steht die Bevölkerung, die weitere Kürzungen einfach nicht hinnehmen kann und will. Mit Recht, sagt die Abgeordnete Alicia Castro von der Frente para el Cambio, einem Sammelbecken für linke Politiker:
Einen Ausweg gibt es immer. Sogar Länder wie Argentinien sind schon durch schlimmere Zeiten gegangen, und es gab immer einen Ausweg. Es sind die Rechten und die Neoliberalen, die uns weismachen wollen, dass es keinen anderen Ausweg gebe als die Konfiszierung der Gehälter der arbeitenden Bevölkerung oder der Renten. Aber damit es auch mittel- und langfristig einen Ausweg gibt, muss eine politische Lösung gefunden werden, eine alternative Politik, die denen mehr Macht gibt, die am wenigsten haben.
In den Provinzen ist die Stimmung aufgeheizt wie kurz vor einem massiven Volksaufstand. Demonstranten liefern sich Straßenkämpfe mit Polizei und Gendarmerie, die bisher nur Tränengas und Gummigeschosse einsetzen. Trotzdem sind bereits Tote und Schwerverletzte zu beklagen. Im Großraum Buenos Aires haben viele Geschäfte geschlossen, aus Angst vor neuen Plünderungen. Manche Ladenbesitzer verteidigen ihre Ware mit scharfen Waffen. Die Frage ist, ob die Ausrufung des Ausnahmezustandes die Lage beruhigt.
Argentinien, das Vorzeigeland des IWFs und seiner neoliberalen Politik, ist bankrott, und die Bevölkerung zahlt den Preis dafür. Doch an Universitäten, bei den Gewerkschaften, in den Medien wird über Alternativen zu dem herrschenden Wirtschaftsmodell nachgedacht. Der Gewerkschaftsführer Victor de Gennaro:
Ich glaube, wir sind in eine neue Phase eingetreten. Die Zukunft hängt davon ab, was wir jetzt zusammen unternehmen. Vor 15, 20 Jahren, auf dem Höhepunkt der Ära Thatcher und Reagan, hieß es, dass der Kampf der Ideologien vorbei sei, dass es nur einen Weg gäbe - aber das war ein Lüge, und damit ist es jetzt vorbei. Die Neoliberalen haben den kulturellen Kampf verloren, sie können niemanden mehr überzeugen. Die USA haben die Macht, jeden Punkt der Welt zu bombardieren; sie haben die Macht, Lateinamerika zu militarisieren, sie können die Meinung manipulieren, aber sie können nicht mehr überzeugen. Vor 15, 20 Jahren überzeugten sie noch die Leute, dass der Neoliberalismus der einzige Weg sei, und leider haben viele geglaubt, dass man auf diesem Weg auch zur Industrienation würde. Unser Land jedenfalls nicht. In den letzten Jahren hat sich diese neoliberale Sichtweise als falsch herausgestellt. Man ist sich klar, dass es so nicht weitergeht, man muss den Weg ändern. Die Diskussion geht bereits darüber, wie man ihn ändert, was die Alternativen sind, und zwar nicht mehr in einer defensiven Haltung, sondern wir gehen in die Offensive.
Link: Schwerpunkt Argentinien
Seit längerem schon blockieren Arbeitslose regelmäßig die Autobahnen. Es sind die Armen aus dem ehemaligen Industriegürtel der Stadt - Menschen, die seit Jahren arbeitslos sind. Piqueteros (sprich: piketéros), Streikposten, nennen sich diese Arbeitslosen. Streikende, die keine Arbeit haben. Die piqueteros wissen, dass normalerweise nur die arbeitende Bevölkerung ihren Betrieb bestreikt. Die Arbeitslosen, so sagen sie, bestreiken eben die Straße. Seit Monaten nehmen die Proteste ständig zu, und jetzt haben sie ihren Höhepunkt erreicht. Im ganzen Land sperren verzweifelte Menschen die Straßen, in vielen Städten werden täglich die Supermärkte geplündert, und die Armen haben endlich die geballte Aufmerksamkeit der Presse. Das Problem ist schlicht und einfach Hunger, sagt Martín, 22 Jahre alt, ein großer Mann in einem verschlissenen Trainingsanzug:
Ich habe keine Arbeit. Ich habe bei einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme als Straßenkehrer gearbeitet, aber selbst das wurde gestrichen, und das waren sowieso nur 160 Pesos pro Monat. Es reichte nicht, um Strom, Wasser und Gas zu bezahlen. Ich habe einen sechs Monate alten Sohn, und ich muss ihm Windeln kaufen. Außerdem muss ich noch meinen Vater versorgen, einen 60jährigen Witwer, und meine Frau natürlich. Wir kämpfen ums Überleben. Ich gehe jeden Tag auf die Straße, um irgendwelche Gelegenheitsarbeiten zu finden, als Tagelöhner, egal was, denn sonst - hier in diesem Land geht nichts mehr.
Die regierende Koalition von Radikalen, - etwa vergleichbar mit Sozialdemokraten -, und der Frepaso - einer gemäßigt linken Gruppierung - , hatte bisher die Taktik verfolgt, die Protestierenden als Ruhestörer und Krawallmacher zu bezeichnen. Präsident Fernando de la Rúa hat nun den Ausnahmezustand erklärt; auf einen Monat begrenzt. Aber die Armen, die Supermärkte plündern, um wenigstens an Weihnachten genug zu essen zu haben, sind nur ein Teil des Problems. Wegen der neuesten Sparmaßnahmen hat die Regierung auch die Mittelklasse gegen sich. Seit Anfang Dezember sind alle Bankkonten strikten Beschränkungen unterworfen. Niemand darf mehr als 250 Pesos, das sind umgerechnet rund 400 DM, pro Woche in bar von seinem Konto abheben. Es ist schon abzusehen, dass die Konten bald völlig eingefroren werden. Deswegen stehen nicht nur die Arbeitslosen und Armen auf den Barrikaden, sondern auch die Mittelklasse, die um ihr Erspartes fürchtet.
Dies war eingeführt worden, um den drohenden Zusammenbruch der Banken zu verhindern, nachdem täglich Millionen von Dollar aus dem Finanzsystem abflossen. Das Land hat ohnehin schwere finanzielle Probleme. Die internationalen Finanzinstitutionen wollen Argentinien keine Kredite mehr geben, oder höchstens unter der Bedingung noch strikterer Sparprogramme. Wirtschaftminister Domingo Cavallo zwang in den vergangenen Wochen der Bevölkerung jeden Tag eine neue Sparmaßnahme auf - Einschränkung der Bankkonten, Weihnachtszulagen gestrichen, Förderungsmaßnahmen für die Kleinindustrie gekappt und so weiter. Doch jetzt ist die Geduld der Menschen zu Ende - die Hungernden plündern die Supermärkte, und im ganzen Land gehen die Leute auf die Straße, die meisten spontan und unorganisiert. Wirtschaftsminister Cavallo, Symbol der neoliberalen Wirtschaftspolitik, ist auf Druck der Bevölkerung zurückgetreten, Auftakt für den mittlerweile erfolgten Rücktritt der ganzen Regierung. Wortführer der Proteste sind Arbeitslosen-Organisationen und eine linke Gewerkschaft. Die großen Parteien Argentiniens haben beim Volk ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt.
Hintergrund der Proteste ist die Welle von rigorosen Sparpaketen, die die Regierung unter Präsident Fernando De la Rúa verabschiedet hat. Ziel ist die Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit mittels einer so genannten Null-Defizit-Politik - der Staat will nicht mehr Geld ausgeben, als er einnimmt. Um das zu erreichen, sind Gehälter und Renten radikal gekürzt worden. Jetzt ist auch noch die Weihnachtszulage gestrichen worden, und man kann nicht einmal beliebig auf sein Erspartes zurückgreifen. Weil Gehälter nicht mehr wie sonst bar ausgezahlt, sondern über die Bank überwiesen werden, kann die Regierung mehr Steuergelder einstreichen. Sie unterbindet so auch die Schwarzarbeit. Darauf, dass nun alle Zahlungen plötzlich auf einen Schlag über die Banken abgewickelt werden sollen, sind die Banken nicht eingestellt - für eine simple Überweisung, beispielsweise, muss man mindestens zwei Stunden in der Schlange stehen -. Die argentinische Gesellschaft ist darauf nicht vorbereitet, es entspricht nich ihrer bisherigen Tradition. Rund 40 Prozent der Menschen arbeiten schwarz. Der nun erfolgte Zwang zur Legalisierung aller Zahlungen über die Banken hat damit weite Teile der Bevölkerung von der Zahlungskette abgeschnitten.
Ein Beispiel: Ein beliebiger Wohnungsbesitzer will dieser Tage seine Wohnung anstreichen lassen. Der Anstreicher arbeitet natürlich schwarz. Der Wohnungsbesitzer hat aber nicht mehr genug Bargeld, um den Mann zu bezahlen. Über die Bank kann er nicht zahlen, da der Anstreicher ja offiziell gar nicht arbeitet. Also wird er seine Wohnung lieber nicht streichen lassen, und der Anstreicher hat keinen Auftrag mehr. Gerade vor Weihnachten kocht da die Volksseele. Die Bevölkerung ist empört, quer durch alle Schichten, so sehr, dass im Zuge der gewalttätigen Proteste dieser Tage der Kongress die Bargeldbeschränkung wieder aufheben will. Doch die Regierung sagt, ihr bliebe keine Wahl, sie müsse sparen: Argentinien hat rund 130 Milliarden Dollar Schulden und ist im Prinzip zahlungsunfähig, auch wenn die Regierung dies nicht zugibt. Die düstere Situation erläutert der Ökonom Ricardo Fuente von Ecolatina Consulting:
Argentinien leidet seit drei Jahren unter einer Rezession. Dafür gibt es externe und interne Gründe. Zu den externen Gründen gehören die verschiedenen Finanzkrisen, wie etwa in Südostasien, Russland, die Abwertung der brasilianischen Währung. Zu den internen Gründen gehört der Wechselkurs: Der Peso ist eins zu eins fest an den Dollar gekoppelt. Man hätte für einen ausgeglichenen Haushalt sorgen sollen, vor allem, als viele Staatsunternehmen privatisiert wurden und das Geld aus diesen Privatisierungen dem Staat zur Verfügung stand. Leider wurde das im vergangenen Jahrzehnt nicht gemacht. Es gab immer ein Defizit, und wenn man dabei einen Eins-zu-eins-Wechselkurs der lokalen Währung zum Dollar hat, bleibt als einzige Möglichkeit, um das Haushaltsloch zu stopfen, die Aufnahme von Schulden. Das heißt, jetzt stehen wir vor folgendem Panorama: Absolut gesehen, hat Argentinien keine so hohen Schulden - es sind etwa 50, 55% des Bruttoinlandprodukts -, das sind weniger Schulden, als sie viele europäische Länder haben. Aber Argentinien hat einen ungeheuren Berg von Zinsen, die abzuzahlen sind. Mehr als 20 Prozent des Haushalts muss für die Zahlung der Zinsen aufgebracht werden.
Fast ein Viertel aller Auslandsschulden der Schwellenländer entfallen auf Argentinien. Wenn man die Schulden der Zentralregierung und der Provinzen zusammenrechnet, schuldet das Land Geldgebern im In- und Ausland sogar rund 165 Milliarden Dollar.
Die unseriöse Finanzpolitik begann mit der Militärregierung zwischen 1976 und 1983. Vor dem Putsch schuldete Argentinien dem Ausland acht Milliarden Dollar; am Ende waren es 45 Milliarden Dollar. Allein zehn Milliarden davon gaben die Militärs für Waffenkäufe aus. Damit begann die Spirale: Um die fälligen Zinsen zu zahlen, nahmen die nachfolgenden demokratischen Regierungen neue Kredite zu immer ungünstigeren Bedingungen auf. In den 90er Jahren unter dem früheren Präsident Menem stiegen die Schulden auf 145 Milliarden Dollar.
Der amtierende Präsident Fernando De la Rúa steckt nun in der Klemme. Die vor Jahren aufgenommenen Schulden werden fällig, aber die Staatskasse ist leer. Und dieser Tage ist die Zahlungsunfähigkeit im Prinzip eingetreten. Der Ökonom Claudio Lozano erläutert die Krise des Landes:
Wir stehen vor der Krise des Wirtschaftssystems, das während der Diktatur eingeführt wurde, und das heute ernste Probleme hat, einen Konsens in der Gesellschaft zu finden. Das zeigt sich in drei grundlegenden Punkten: Erstens, was die Wirtschaft betrifft, sehen wir einen Kollaps, nämlich die Zahlungsunfähigkeit. Zweitens erleben wir einen Kollaps der Produktion, der sich im Prozess der De-Industrialisierung äußert, das ist ein langfristiger Stillstand der Wirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das wir heute hier haben, ist acht Punkte niedriger als Mitte der 70er Jahre. Hinzu kommt, dass wir in den letzten drei Jahren eine ununterbrochene Rezession haben. Drittens beobachten wir einen Kollaps des sozialen Gefüges, da rund 40 Prozent der Bevölkerung arm sind.
In den Dörfern ist die Situation desolat, erzählt Inés Borda, eine Hausangestellte aus der Provinz Entre Rios im Nordosten des Landes:
Auf dem Land ist die Lage noch schlimmer. Die, die keine Arbeit haben, können zwar ein bisschen Gemüse hinterm Haus pflanzen und ein paar Tiere halten, aber die Tiere werden oft gestohlen. Die Schafe oder Hühner werden von den Räubern sofort geschlachtet, - einfach, weil die Menschen Hunger haben. Mein Vater lebt in einer Gegend, wo Mandarinen und Orangen wachsen. Aber die Arbeiter, die auf diesen Plantagen arbeiten, bekommen höchstens 10 Pesos - rund 20 DM - pro Woche, und davon kann man nicht leben. Und so fangen die Leute an zu stehlen. Ich will das nicht entschuldigen, aber die Menschen stehlen, um etwas zum Essen zu haben.
Die Rentenkasse ist pleite, und seit letzter Woche können die meisten Rentner keine ärztliche Behandlung mehr bezahlen. Kranke, alte Menschen bekommen keine Medikamente mehr - außer, sie sind privat versichert. Doch die meisten Argentinier können sich eine private Krankenversicherung nicht leisten. Aber das öffentliche Gesundheitssystem ist am Rande des Zusammenbruchs, weil das Geld fehlt. Zur einer Behandlung in einem öffentlichen Krankenhaus muss man alles selber mitbringen - Watte, Spritzen, Impfstoff. Um einen Termin am selben Tag zu bekommen, muss man sich morgens ab vier Uhr in eine Schlange stellen, dann kommt man mittags vielleicht an die Reihe. Die Ärzte tun, was sie können, aber die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, sind unerträglich, wie Inés Borda selbst erlebte:
Einmal brachte ich meine dreijährige Tochter ins Krankenhaus. Man untersuchte sie in einem kleinen Zimmerchen zwischen zwei Sälen, die voller kranker Kinder waren - vielleicht sogar mit ansteckenden Krankheiten, wer weiß. Vier Kinderärzte behandelten parallel eine ganze Schlange von Kindern; es waren so viele Leute und Lärm in dem Zimmer, dass ich nicht mal verstehen konnte, was die Kinderärztin mir über meine Tochter sagte. Es war einfach unmöglich. Vier Kinderärzte gleichzeitig in einem winzigkleinen Raum mit all den Kindern, man konnte kein Wort verstehen.
Argentinien ist ein reiches Land, mit riesigen landwirtschaftlichen Flächen und verhältnismäßig wenig Menschen; es produziert Fleisch, Weizen, Soja, Obst. Es hat genug Vorräte an Süßwasser und eine ausgedehnte Küstenlinie für den Fischfang im Atlantik. Das Land hat Bodenschätze wie Öl und Erdgas. Was geschieht mit diesen natürlichen Reichtümern? Wer verdient an ihrem Verkauf? Wieso leiden die Menschen Hunger in einem Land, das Fleisch, Getreide und Erdöl exportiert? Der Generalsekretär der Gewerkschaft CTA, Victor de Gennaro, vermisst gesunden Menschenverstand, aber er weiß, dass es um Macht geht.
Wenn das Land reich ist, wenn es genug Arbeit gibt, wenn es genug Geld gibt, dann muss das eben sinnvoll verteilt werden. Und die großen Unternehmen dürfen das Land nicht ausplündern. Hier gibt es viele, die viel verdienen. Das privatisierte Erdölunternehmen Repsol/YPF verdient 1200 Dollars pro Minute! Die spanische Telefongesellschaft Telefónica hat hier viermal mehr Gewinn als in Spanien, und es gibt noch viele Beispiele mehr. Manche Leute behaupten, der Staat habe sich völlig zurückgezogen und existierte kaum mehr. Das stimmt nicht, der Staat funktioniert, nur schützt er jetzt andere Gruppen: Nicht mehr die Bevölkerung, sondern große wirtschaftliche Gruppen.
Die Erdölfirma und die Telefongesellschaft, die der Gewerkschaftsführer erwähnt, wurden in den 90er Jahren unter der früheren peronistischen Regierung privatisiert. Der Verkauf war Teil der Bedingungen, die der Staat erfüllen musste, um Kredite von den internationalen Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds IWF zu bekommen. Zur verlangten Umstrukturierung des Landes gehörten der Abbau des Staatsanteils an der Wirtschaft, der Abbau von Sozialleistungen, die Öffnung der Grenzen für ungehinderte Importe, um einige Beispiele zu nennen. Argentinien war ein Musterschüler des IWF, das Vorzeigeland des Neoliberalismus, das alle Vorgaben sorgfältig erfüllte. Der Haken war, dass die Gelder, die durch die Privatisierungen der staatlichen Unternehmen ins Land kamen, nicht investiert, sondern zur Schuldentilgung verwendet wurden. Ein Teil wanderte auch in die Taschen der Vermittler der Geschäfte. Der Ökonom Ricardo Fuente, von einer der wichtigsten Beratungsfirmen in Argentinien, warnt vor dieser rücksichtslosen Politik:
Ich glaube schon, dass es an der Zeit ist, die Strukturen zu sanieren, aber man muss ständig abwägen zwischen den Interessen der Bevölkerung und den Interessen der Märkte. Es ist offensichtlich, dass bisher immer die Interessen des Finanzsektors sich durchgesetzt haben, mit sehr hohen Kosten für die Bevölkerung und vor allem für die Armen. Dieses Modell der letzten zehn Jahre, in denen es durchaus auch Wirtschaftswachstum gegeben hat, hat die Einkommensverteilung völlig ungerecht polarisiert. Das heißt, die Reichtümer konzentrieren sich in den Händen von immer weniger Personen, und es gibt immer mehr Menschen, die sich unter der Armutsgrenze befinden.
Die Schere zwischen Armen und Reichen klafft in Argentinien immer weiter auseinander. Doch das Problem ist nicht nur, ob man eine Arbeit findet. Wenn man eine hat, ist die Frage, ob man mit Geld oder mit Gutscheinen bezahlt wird. Die meisten Provinzen sind de facto bankrott. Bisher weigert sich die Regierung, den Peso abzuwerten. Da die Provinzregierungen kein Geld drucken können, um ihre Angestellten zu zahlen, geben sie Gutscheine aus, also praktisch eine Parallelwährung.
Andrés Harfuch arbeitet als Pflichtverteidiger beim Gericht in der Provinz Buenos Aires. Seit August bekommt er nur noch zehn Prozent seines Gehaltes in Geld ausgezahlt, den Rest in Gutscheinen. Doch viele Geschäfte akzeptieren die Gutscheine nicht. Der junge Anwalt zeigt sein Gehalt - er steht da mit einem Bündel Papier in der Hand, das aussieht wie Spielgeld. Mit den Gutscheinen kann man bei einer Privatbank einen Kredit nicht abstottern, auch Medikamente können nicht damit bezahlt werden.
Neulich habe ich meinen Arzt gefragt: "Herr Doktor, womit soll ich denn jetzt zahlen?" Und er antwortete: "Keine Sorge, ich muss einige Steuern in der Provinz für ein Stück Land bezahlen, die kann man mit Gutscheinen bezahlen. Geben Sie mir also Gutscheine." So geht es die ganze Zeit; alle Leute checken, wie sie damit umgehen können. Einige Geschäfte sind so verzweifelt, dass sie die Gutscheine ein-zu-eins akzeptieren, damit überhaupt Kunden kommen.
Argentinien war eines der wenigen Länder in Südamerika, in denen es eine breite Mittelschicht gab. Sie verschwindet aber zunehmend. Die untere Mittelschicht findet sich zu ihrem eigenen Erstaunen bei den Armen wieder. Alle, die noch Arbeit haben, wissen, dass sie nun darum kämpfen müssen. Andrés Harfuch erzählt von der Atmosphäre in der Justiz:
Es ist lustig zu beobachten, wie 60-, 70jährige ultrakonservative katholische Richter sich plötzlich in professionelle Agitatoren verwandeln. Sie glaubten, sie würden von den Sparprogrammen niemals berührt werden; sie dachten wohl, sie wären immun gegen die allgemeinen Probleme. Diese Situation hat sie aufgerüttelt.
Die argentinische Regierung befindet sie sich in einer praktisch unlösbaren Zwickmühle: Auf der einen Seite stehen die Gläubiger, - Banken, der Internationale Währungsfond, die US-amerikanische Regierung -, die den argentinischen Staat zu weiteren Kürzungen bei den Sozialausgaben verpflichtet haben. Und auf der anderen Seite steht die Bevölkerung, die weitere Kürzungen einfach nicht hinnehmen kann und will. Mit Recht, sagt die Abgeordnete Alicia Castro von der Frente para el Cambio, einem Sammelbecken für linke Politiker:
Einen Ausweg gibt es immer. Sogar Länder wie Argentinien sind schon durch schlimmere Zeiten gegangen, und es gab immer einen Ausweg. Es sind die Rechten und die Neoliberalen, die uns weismachen wollen, dass es keinen anderen Ausweg gebe als die Konfiszierung der Gehälter der arbeitenden Bevölkerung oder der Renten. Aber damit es auch mittel- und langfristig einen Ausweg gibt, muss eine politische Lösung gefunden werden, eine alternative Politik, die denen mehr Macht gibt, die am wenigsten haben.
In den Provinzen ist die Stimmung aufgeheizt wie kurz vor einem massiven Volksaufstand. Demonstranten liefern sich Straßenkämpfe mit Polizei und Gendarmerie, die bisher nur Tränengas und Gummigeschosse einsetzen. Trotzdem sind bereits Tote und Schwerverletzte zu beklagen. Im Großraum Buenos Aires haben viele Geschäfte geschlossen, aus Angst vor neuen Plünderungen. Manche Ladenbesitzer verteidigen ihre Ware mit scharfen Waffen. Die Frage ist, ob die Ausrufung des Ausnahmezustandes die Lage beruhigt.
Argentinien, das Vorzeigeland des IWFs und seiner neoliberalen Politik, ist bankrott, und die Bevölkerung zahlt den Preis dafür. Doch an Universitäten, bei den Gewerkschaften, in den Medien wird über Alternativen zu dem herrschenden Wirtschaftsmodell nachgedacht. Der Gewerkschaftsführer Victor de Gennaro:
Ich glaube, wir sind in eine neue Phase eingetreten. Die Zukunft hängt davon ab, was wir jetzt zusammen unternehmen. Vor 15, 20 Jahren, auf dem Höhepunkt der Ära Thatcher und Reagan, hieß es, dass der Kampf der Ideologien vorbei sei, dass es nur einen Weg gäbe - aber das war ein Lüge, und damit ist es jetzt vorbei. Die Neoliberalen haben den kulturellen Kampf verloren, sie können niemanden mehr überzeugen. Die USA haben die Macht, jeden Punkt der Welt zu bombardieren; sie haben die Macht, Lateinamerika zu militarisieren, sie können die Meinung manipulieren, aber sie können nicht mehr überzeugen. Vor 15, 20 Jahren überzeugten sie noch die Leute, dass der Neoliberalismus der einzige Weg sei, und leider haben viele geglaubt, dass man auf diesem Weg auch zur Industrienation würde. Unser Land jedenfalls nicht. In den letzten Jahren hat sich diese neoliberale Sichtweise als falsch herausgestellt. Man ist sich klar, dass es so nicht weitergeht, man muss den Weg ändern. Die Diskussion geht bereits darüber, wie man ihn ändert, was die Alternativen sind, und zwar nicht mehr in einer defensiven Haltung, sondern wir gehen in die Offensive.
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