Neukaledonien
Ausnahmezustand mit Vorgeschichte

Die Unruhen in Neukaledonien lenken den Blick auf die französische Kolonialvergangenheit. Schauplatz der Ereignisse ist ein Gebiet, das auch geopolitisch zunehmend ins Zentrum rückt. Überdies spielen wirtschaftliche Interessen in dem Konflikt eine wichtige Rolle.

    Menschen mit Flaggen Neukaledoniens protestieren gegen die Neudefinition der Wahlberechtigten in ihrem Land.
    Das indigene Volk der Kanak in Neukaledonien sieht sich in seiner politischen Einflussnahme beschnitten. (picture alliance / Hans Lucas / Claire Serie)

    Wie kam Neukaledonien zu Frankreich?

    Die Verbindungen der Inselgruppe zu Frankreich gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Neukaledonien wurde 1853 unter Kaiser Napoleon III., dem Neffen Napoleon Bonapartes, eine französische Kolonie. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zu einem Überseegebiet. Die indigene Bevölkerung litt lange Zeit unter systematischer Unterdrückung. Noch heute leben viele Indigene unterhalb der Armutsgrenze.

    Welche Bedeutung hat Neukaledonien für Frankreich?

    Die Inselgruppe mit etwa 270.000 Menschen liegt im Südpazifik, rund 1.500 Kilometer östlich von Australien. Sie ist geopolitisch von Bedeutung angesichts wachsender Machtansprüche Chinas und schwelender Konflikte in der Region. Frankreich verfügt über mehrere Militärstützpunkte in Neukaledonien. Wirtschaftlich punktet das Territorium vor allem durch seine Rohstoffvorkommen: Riesige Nickel-Lagerstätten machen Frankreich zu einem der weltweit wichtigsten Exporteure des Metalls, das zur Produktion zahlreicher Industrie- und Konsumgüter benötigt wird, etwa bei der Herstellung von Akkus.

    Welchen Status hat Neukaledonien?

    Nicht alle französischen Überseegebiete haben den gleichen Status: Während die Übersee-Départements - wie Französisch-Guyana, Guadeloupe und Réunion - zum Gebiet der Europäischen Union gehören, zählt von den sogenannten Collectivités d'outre-mèr nur Saint-Martin zur EU. Neukaledonien, das ebenfalls nicht Teil des EU-Gebiets ist, hat einen Sonderstatus und wird daher auch als Collectivité sui generis bezeichnet. Mit dem Abkommen von Nouméa, das 1998 in der gleichnamigen Hauptstadt des Inselgebiets unterzeichnet wurde, gab die französische Regierung bestimmte Kompetenzen an Neukaledonien ab. Zugleich wurden mehrere Referenden über eine mögliche Unabhängigkeit vereinbart.

    Wie steht die Bevölkerung des Inselgebiets zu einer möglichen Unabhängigkeit?

    Bei drei Volksabstimmungen, die 2018, 2020 und 2021 stattfanden, hatten die Bewohner jeweils mehrheitlich für einen Verbleib bei Frankreich gestimmt. Allerdings hatte die Unabhängigkeitsbewegung das letzte Votum boykottiert, das auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie abgehalten wurde. Die Separatisten kündigten an, das Ergebnis nicht zu akzeptieren. Vor allem das Volk der Kanak - Neukaledoniens Ureinwohner - hofft schon lange auf einen eigenen Staat. Die Kanak stellen 41 Prozent der Bevölkerung. Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe sind mit 24 Prozent die Caldoches, Nachfahren weißer Siedlerinnen und Siedler.

    Warum kocht der Streit gerade jetzt wieder hoch?

    Frankreichs Präsident Macron hatte bei einem Besuch in Neukaledonien im Juli eine Verfassungsreform angekündigt, die nun kurz vor der Umsetzung steht. Demnach soll die Wählerschaft bei Provinzwahlen erweitert werden: Bislang dürfen Inselbewohner, die in den vergangenen 25 Jahren vom französischen Festland oder aus anderen Ländern gekommen sind, nicht daran teilnehmen. Nun soll diese Frist auf zehn Jahre verkürzt werden. Damit werden nach Schätzung von Fachleuten etwa 25.000 Personen wahlberechtigt, von denen die Hälfte in Neukaledonien geboren wurde. Ein wachsender Bevölkerungsanteil gibt mittlerweile an, "kaledonisch" zu sein. Das Volk der Kanak aber sieht sich in den Möglichkeiten der Einflussnahme beschnitten. Der Chef der Lokalregierung, Loius Mapou, etwa sagte: "Diese Entscheidung wird unsere Möglichkeiten stark einschränken, Neukaledonien zu verwalten."

    Welche Befürchtungen verbinden Separatisten mit der Verfassungsreform?

    Die Befürworter einer Unabhängigkeit von Frankreich erwarten, dass der politische Einfluss der ursprünglichen Bevölkerung mit den neuen Wahlregeln schwindet und das französische Festland seine Position deutlich stärken kann. Die Expertin Ronja Kempin von der Stiftung Wissenschaft und Politik sagte bereits vor dem dritten Unabhängigkeitsreferendum 2021 im Deutschlandfunk, Neukaledonien stehe seit 1986 auf einer UNO-Liste der noch zu dekolonisierenden Länder. Allerdings müsse man Frankreich zugutehalten, dass es in den vergangenen drei Jahrzehnten viel dafür getan habe, das Gebiet zu entwickeln. So sei das Bruttoinlandsprodukt dank großer Transferleistungen eines der höchsten in der Region.

    Wie geht es mit der geplanten Verfassungsreform weiter?

    Die französische Nationalversammlung in Paris hatte der Reform in dieser Woche zugestimmt. Da es sich um eine Verfassungsänderung handelt, muss aber noch eine gemeinsame Versammlung aus beiden Parlamentskammern das Vorhaben mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit billigen. Diese Abstimmung ist für Juni geplant.
    Diese Nachricht wurde am 16.05.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.