Es war in Colorado im Herbst in diesem Jahr, als auf der Sportkonferenz "Play the Game" zwei ganz unterschiedliche Vertreter von Whistleblowern aufeinandertrafen: Auf der einen Seite mit dem Filmemacher Bryan Fogel ein Vertrauter von Grigory Rodchenkov, dem früheren Leiter des Moskauer Doping-Kontroll-Labors, und auf der anderen Seite das Ehepaar Stepanov, das mit den Aussagen zum Doping in Russland den Dopingskandal ans Licht brachte.
Ihre Motive waren höchst unterschiedlich. Bryan Fogel ist Produzent der Dokumentation "Ikarus", in der Rodchenkov ausführlich über das staatlich gelenkte Dopingsystem auspackt. Bei "Play the Game" erzählt er die Umstände des Zustandekommens und bezeichnet dabei Grigory Rodchenkov mehrfach als den größten Whistleblower aller Zeiten im Sport.
"Wenn du die Wahrheit zerstören willst, musst du sie strecken."
Danach brodelt es spürbar in Vitaly Stepanov, dem früheren Mitarbeiter der RUSADA, der stets für sauberen Sport eintritt, nicht in die Praktiken involviert war und seine Frau Yuliya, die 800-Meter-Läuferin, überzeugt hatte, das System öffentlich zu machen: "Möglicherweise verliere ich jetzt einige als Freunde, aber - das Zitat stammt nicht von mir, es ist von einem unbekannten Autor: Wenn du die Wahrheit zerstören willst, musst du sie strecken."
Worauf Vitaly Stepanov anspielt, ist die führende Rolle von Grigory Rodchenkov im russischen Doping-Skandal und die Umstände, unter denen er all sein Wissen preisgab. Infolge der Aussagen der Stepanovs werden Ermittlungen in Gang gesetzt, das Moskauer Labor verliert seine Akkreditierung, Grigory Rodchenkov wird suspendiert. Mit Hilfe von Bryan Fogel setzt er sich kurz darauf in die USA ab. Kurz bevor Rodchenkov vor der Grand Jury aussagen soll, fasst er den Entschluss an die Öffentlichkeit zu gehen:
"Er sagte, wir müssen damit jetzt raus, weil, wenn wir es jetzt nicht machen, gibt es keine Chance mehr, dass es noch rechtzeitig vor den Spielen in Rio herauskommt und dann wird davon nichts mehr an die Öffentlichkeit gehen. Er war überzeugt, die USA würden das unter den Teppich kehren und das IOC würde nie etwas unternehmen. Er sollte am 12. Mai 2016 vor der Grand Jury aussagen. Wir haben die New York Times am 7. Mai angerufen, saßen drei Tage mit denen zusammen und am 12. Mai erschien die Geschichte auf der Titelseite. Sie können sich vorstellen, wie frustriert, wie stinksauer die Grand Jury war. Aber sie konnte es nicht mehr ändern. Grigory ist jetzt ein Whistleblower."
Kronzeuge oder Whistleblower?
Hatte Grigory Rodchenkov es im Wettlauf mit der Zeit durch die Veröffentlichung noch gerade rechtzeitig geschafft, zum Whistleblower zu werden? Statt "nur" zu einem Kronzeugen? Oder definiert sich das Whistleblowing nicht durch seine hehren Ziele?
So einfach ist die Sache nicht, sagt Jurist Simon Gerdemann, der sich seit Jahren rechtswissenschaftlich mit dem Whistleblowing beschäftigt und Berater des Whistleblower-Netzwerks in Deutschland ist. Bislang mangele es noch ganz generell an einer juristisch klaren Abgrenzung.
"Ein klassisches Whistleblowing im Sinne einer gesetzlichen Definition gibt es in Deutschland und den meisten anderen Ländern nicht. Üblicherweise würde man von einem Whistleblower sprechen, wenn jemand aus mehr oder weniger uneigennützigen Motiven ein Verbrechen, eine rechtswidrige Tat oder einen Missstand aufdeckt, an dem er selbst nicht beteiligt ist und sich damit an eine Instanz wendet."
Grigory Rodchenkov war ganz klar beteiligt und dabei kein kleines Rädchen im Getriebe. Vor dem Hintergrund ist auch Leichtathletin Yuliya Stepanova aufgebracht darüber, welche heldenhafte Rolle ihm nun zugeschrieben wird und erzählt von ihren Erfahrungen mit ihm:
"Als ich zum Profisport kam und ins russische Team aufgenommen wurde, gab es zwei Mediziner. Rodchenkov und Portugalov. Ich wurde von Portugalov betreut und bekam mit, dass die beiden wetteten, wessen Athletin jeweils gewann. Sie machten Geld damit und wir waren wie Rennpferde für die beiden. Ich fragte sie danach und Portugalov antwortete, es sei sonst langweilig für sie die Wettkämpfe anzuschauen. Aber wenn Geld drin stecke, sei es viel interessanter."
Was macht einen überzeugten Whistleblower aus?
Handelt so ein überzeugter Whistleblower, der einen Missstand beseitigen will? Diese Frage steht im Raum und Yuliya Stepanova geht noch weiter: "Er will ein Whistleblower sein - warum hat er dann nicht ausgepackt bevor er suspendiert wurde, bevor wir mit unserem Wissen herauskamen? Er hat jahrelang so viele Athleten gedopt und es verheimlicht. Er hätte es beenden können."
Jurist Simon Gerdemann, der über Whistleblowing forscht, versteht gut, dass es hier zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Vertretern zu einem offenen Zwist gekommen ist und es den Wunsch nach Differenzierung ihrer Leistung zur Aufdeckung der Missstände gibt.
Für den Wert einer Aussage spielt die Motivlage nach deutschem Recht allerdings keine Rolle: "Also prinzipiell kennt das deutsche Recht keine Geringerschätzung von Aussagen selbst Beteiligter." Die Aussagen werden deswegen nicht weniger genutzt für die weitere juristische Verfolgung. Wohl aber macht es einen Unterschied in der Frage, wie der Whistleblower von der Justiz behandelt wird:
"Man kann die Definition des Whistleblowing klar von dem des Kronzeugen trennen, die realen Fälle können natürlich verschwimmen. Also wenn jemand zum Beispiel mehr oder weniger dazu genötigt wird oder in etwas hineinschliddert und dann als Beihelfer eine Straftat begeht und sich trotzdem dagegen wendet, wird das natürlich juristisch auch stark zu berücksichtigen sein."
Stepanova: "Würde es wieder so machen"
Die andere ebenso wichtige Frage ist: Wie werden Whistleblower geschützt? In der EU wird gerade an der Richtlinie dazu gearbeitet. Die Bedeutung der Whistleblower und ihr Dienst an der Gesellschaft wird auf europäischer Ebene zwar oft gewürdigt, aber noch ist der Schutz nicht besonders stark. Simon Gerdemann beobachtet international, dass es eine Frage der Perspektive ist, ob jemand als Whistleblower oder als Denunziant gesehen wird:
"Die Perspektive heißt, nutzt er mir oder nutzt er mir nicht. Die Amerikaner sind tatsächlich sehr gut darin, Whistleblower intern im Land zu schützen, die ihnen etwas nützen, z.B. im Gesundheitssektor, im Korruptionssektor, da haben die Amerikaner alle ein Interesse daran und sobald es darum geht, dass ihre nationalen Interessen berührt sind oder das, was sie für ihre nationalen Interessen halten, schlägt die Stimmung auf einmal um."
Wie die Stimmung sich gegen einen wenden kann, das hat auch Yuliya Stepanova zu spüren bekommen. Dennoch: "Wenn ich mich nochmal entscheiden müsste, würde ich es wieder so machen."
Diese grundsätzliche Haltung unterscheidet Whistleblower zumeist von Kronzeugen. Aus der Forschung weiß Simon Gerdemann, dass wer überzeugt ist, einen Missstand aufdecken und beseitigen zu wollen, es trotz aller persönlichen Nachteile meistens wieder so machen würde.