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Ausschreibungen bei medizinischen Hilfsmitteln
"Klein- und mittelständische Struktur wird systematisch zerstört"

Die derzeitige Ausschreibungspraxis bei medizinischen Hilfsmitteln führt nach Ansicht des Branchenverbandes Spectaris nicht nur zu Benachteiligungen von Patienten. Auch die alteingesessenen Sanitätshäuser in Deutschland seien gefährdet: "Die vorherrschende klein- und mittelständisch geprägte Struktur wird systematisch zerstört", warnt der Leiter des Fachverbands Medizintechnik bei Spectaris, Markus Kuhlmann.

28.05.2015
    Marcus Kuhlmann
    "Der niedrigste Preis darf nicht alleiniges Zuschlagskriterium sein." (Spectaris)
    1. Frage: Warum wird auf Ausschreibungen im Bereich medizinischer Hilfsmittelbereich gesetzt?
    Marcus Kuhlmann (Leiter Fachverband Medizintechnik, Spectaris): Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich dienen in erster Linie der Kosteneinsparung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Offiziell war das Ziel des Gesetzgebers, mit Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich eine wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Beibehaltung der bisherigen Produkt- und Dienstleistungsqualität zu gewährleisten. Dieses Ziel wurde unseres Erachtens nicht erreicht.
    2. Frage: Wie bewerten Sie diese Praxis? Werden Menschen mit Behinderung hierdurch zusätzlich belastet?
    Kuhlmann: Ausschreibungen haben zu Verlusten bei Produkt- und Dienstleistungsqualität, wie beispielsweise bei der persönlichen Beratung, Anpassung und Einweisung, Hausbesuchen, Lieferterminen und Bemusterungen geführt. Darunter zu leiden haben insbesondere Menschen mit Behinderung, die entweder nicht in den Genuss des bestmöglichen Hilfsmittels kommen oder aber aus eigener Tasche draufzahlen müssen. Ausschreibungen führen unseres Erachtens vielmehr zu einer erheblichen Verschlechterung der Versorgungsqualität der Patienten. Wir lehnen Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich daher grundsätzlich ab, da uns diese ungeeignet erscheinen.
    3. Frage: Zur Begründung der Petition wird darauf hingewiesen, dass die Vorgaben aus dem SGB V, § 127 Abs. 1 (Sicherstellung der Qualität, wohnortnahe Versorgung) durch solche Ausschreibungen nicht gewährleistet sei. Ist das der Fall?
    Kuhlmann: Ja, es kommt zu Verlusten bei der Produkt- und Dienstleistungsqualität. Den Patienten wird von den Ausschreibungsgewinnern in der Regel nur noch ein aufzahlungsfreies Hilfsmittel angeboten. Eine individuelle medizinisch notwendige Versorgung erfolgt damit nicht. Um eine ausreichende, zweckmäßige, funktionsgerechte und individuelle Versorgungsqualität zu erhalten, sind die Patienten daher vielfach gezwungen, wirtschaftliche Aufzahlungen zu leisten. Hierauf wird von den Ausschreibungsgewinnern zum Teil gezielt spekuliert und vor diesem Hintergrund die Angebote kalkuliert. Damit wird das Sachleistungsprinzip quasi durch die Hintertür ausgehebelt.
    Die wohnortnahe Versorgung ist ebenfalls beeinträchtigt, weil durch die derzeitige Ausschreibungspraxis die Preise so weit abgesenkt werden, dass sie oftmals auch für die Ausschreibungsgewinner selbst bei reduzierter Produkt- und Dienstleistungsqualität nicht kostendeckend sind und somit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sowohl der Leistungserbringer, sprich Sanitätsfachhändler, als auch der Hersteller gefährdet wird. Folge ist, dass der Ausschreibungsgewinner, ein Sanitätsfachhändler, beispielsweise nicht mehr in Neuruppin vor Ort sitzt, sondern zukünftig in dem für den Patienten viel weiter entfernten Berlin.
    4. Frage: Stimmt es, dass die Versorgung mit medizinischen Hilfsmitteln wie Rollstühlen durch Ausschreibungen länger dauert? Kommt es dadurch zu einer Verlängerung der Lieferzeiten? Gibt es Verzögerungen bei Reparaturen, weil nicht mehr immer wohnortnah repariert werden kann?
    Kuhlmann: Tendenziell stimmt diese Aussage, kann aber nicht statistisch belegt werden. Wenn aber wie oben erläutert die wohnortnahe Versorgung nicht mehr gewährleistet ist, wird sich das auch auf Liefer- oder Reparaturzeiten negativ auswirken.
    5. Weiter wird bemängelt, dass bereits durchgeführte Ausschreibungen gezeigt hätten, sollte ein Versicherter eine an seine Behinderung besser angepasste Versorgung einfordern, gehe dies zulasten des Versicherten. Es werde über den Weg der Zuzahlung durch den Patienten eine Kostenbeteiligung eingefordert, die oft viel höher als marktüblich seien. Haben Sie eigene Hinweise auf diese Praxis? Wird über Zuzahlungen tatsächlich die Versorgungsanpassung gesteuert? Und wenn ja, liegen diese über einem marktüblichen Niveau?
    Kuhlmann: Auch diese Aussage ist grundsätzlich richtig. Immer häufiger kommt es zu Zuzahlungen, da die Erstattungskosten der GKV so niedrig sind und lediglich eine Grundversorgung umfassen und zudem die Dienstleistung/den Service um das Hilfsmittel in der Regel gar nicht berücksichtigt bzw. erstattet wird. Ob die erhobene Kostenbeteiligung höher als marktüblich ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Vereinzelt wird dies aber sicher nicht auszuschließen sein.
    6. Wie lässt sich verhindern, dass durch Ausschreibungen und die damit verbundene Unterbietung der Preise die Einnahmen des Ausschreibungsgewinners so weit gedrückt werden, dass dies zulasten der Produktqualität geht?
    Kuhlmann: Letztlich lässt sich dies nur dadurch verhindern, dass sich Leistungserbringer oder Hersteller an Ausschreibungen erst gar nicht mehr beteiligen. Die Produktqualität und damit die Versorgungsqualität kann zu den im Moment üblichen Erstattungssätzen nur sehr eingeschränkt, wenn überhaupt auf dem heutigen Niveau gehalten werden. Wir fordern, dass bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit im Rahmen von Ausschreibungen nicht allein der Preis maßgeblich sein darf. Vielmehr muss auch die Versorgungsqualität und die Versorgungssicherheit berücksichtigt werden. Der Zuschlag sollte daher auf Basis von Qualität, Zweckmäßigkeit, Leistungsfähigkeit des Services und des angebotenen Preises sein. Der niedrigste Preis darf nicht alleiniges Zuschlagskriterium sein.
    7. Sehen Sie die Gefahr, dass durch Preisunterbietungen kleinere Anbieter von Produkten im medizinischen Hilfsmittelbereich aus dem Markt gedrängt werden?
    Kuhlmann: Definitiv ja! Größere Anbieter werden andere Wege des Absatzes ihrer Hilfsmittel finden. Für kleinere Anbieter ist dies ungemein schwieriger. In dem Moment, wenn Hersteller von Hilfsmitteln nicht mehr kostendeckend liefern können – was bei den derzeitigen Ausschreibungslosen in der Regel der Fall ist – werden sie sich entweder ganz zurückziehen aus den Ausschreibungswettbewerben und ebenfalls andere Wege finden müssen, ihre Produkte zu verkaufen. Oder sie beliefern nicht kostendeckend, in der Hoffnung, über aufzahlungspflichtiges Zubehör auf insgesamt schwarze Zahlen zu kommen. Einigen wird dies gelingen, anderen nicht. Wir sehen die Gefahr, oligopolistische Strukturen im Hilfsmittelmarkt zu bekommen. Die bisherigen Ausschreibungen zeigen bereits, dass die Losaufteilung die Bildung von oligopolistischen Strukturen fördert. Die jetzige vorherrschende klein- und mittelständisch geprägte Struktur wird systematisch zerstört.
    "Spectaris" lehnt daher Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich aufgrund der bisherigen Erfahrungen grundsätzlich als ungeeignet ab. Vertragsabschlüsse zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern gewährleisten besser die Qualität der Versorgung, das Wahlrecht der Patienten, die Anbietervielfalt sowie eine wirtschaftliche Versorgung und berücksichtigen die Interessen aller Beteiligten. Daher sollte festgelegt werden, dass die Krankenkassen als erste Option Verträge nach § 127 Abs. 2 SGB V (Verhandlungsverträge) mit den Leistungserbringern abschließen müssen. Somit könnte der § 127 Abs.1 entfallen.
    Die Fragen wurden schriftlich beantwortet.