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Ausschreitungen in Chemnitz
"Ergebnis einer Vernachlässigung von politischer Bildung"

Die Ausschreitungen in Chemnitz sind nach Ansicht des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers Frank Richter die Folge eines tiefgreifenden Unverständnisses über die Funktionsweise der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Dafür sei vor allem die Politik verantwortlich, sagte Richter im Dlf.

Frank Richter im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Demo in Chemnitz
    In Ost-Deutschland sei die "zivilgesellschaftliche Infrastruktur" nicht entwickelt, meint Frank Richter (imago stock&people)
    Christoph Heinemann: Frank Richter gehörte zu den Bürgerrechtlern in der DDR. Bis 2017 war er Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Frank Richter ist aus der CDU ausgetreten; er kandidiert jetzt für das Amt des Oberbürgermeisters in der Stadt Meißen. Guten Abend.
    Frank Richter: Schönen guten Abend.
    Heinemann: Herr Richter, könnte das Sachsen-Gespräch der Beginn einer Annäherung zwischen Politik und Bürgern werden?
    Richter: Ja mein Gott, das wäre ja furchtbar! Das hieße ja, dass es bisher überhaupt kein Gespräch zwischen Politik und Bürgern gegeben hätte. Es hat sehr, sehr viele Versuche gegeben und auch Möglichkeiten, Politik und Bürger zusammenzubringen. Da liegt offenbar ein viel tiefgreifenderes Problem vor, das mit solchen, doch zum großen Teil sehr vordergründigen Dialoggesprächen nicht behoben werden kann.
    Heinemann: Aber offenbar hat das nicht sehr viel gebracht. In unserem täglichen Podcast "Deutschlandfunk, der Tag", den man auf unserer Seite Deutschlandfunk.de hören kann, kam bei uns ein Pegida-Mitglied zu Wort – ein Mann, der nicht möchte, dass sein Name genannt wird:
    O-Ton Pegida-Mitglied: "Ja, es interessiert mich nicht mehr, wer auch an der Demonstration teilnimmt - erstens, weil ich nicht über dieses Stöckchen der Linken springe, die dann einfach sagen, da sind ein paar Nazis dabei. Das ist ja ganz einfach, und über dieses Stöckchen können wir nicht mehr springen. Jeder ist eingeladen, an den Demonstrationen gegen diese Art von Massenmigration teilzunehmen. Und wer dann teilnimmt, nimmt teil. Es gibt keine andere Möglichkeit mehr, um unsere Vorstellungen in den Diskurs überhaupt einzubringen."
    "Hier wirken autoritäre Denk- und Verhaltensmuster nach"
    Heinemann: Es geht nicht anders, sagt dieser Pegida-Teilnehmer. Herr Richter, was antworten Sie ihm?
    Richter: Ja dann sollte er sich kundig machen. Es gibt sehr, sehr viele Möglichkeiten, sich in der parlamentarischen Demokratie, in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einzubringen. Wir haben ein tiefgreifendes Unverständnis über die Funktionsweise der freiheitlich-demokratischen Ordnung in Sachsen und auch in weiten Teilen des Landes festzustellen. Wir ernten jetzt das Ergebnis einer Vernachlässigung von politischer Bildung. Wir ernten das Ergebnis einer Vernachlässigung der Wahrnehmung des Anwachsens einer rechtsextremistischen Szene in Sachsen und auch anderswo, aber insbesondere in Sachsen.
    Wir ernten das Ergebnis einer Politik der Herablassung im Grundton: "Ihr versteht ja sowieso nicht, was wichtig ist." Das heißt, hier wirken autoritäre Denk- und Verhaltensmuster nach. Das ist längst belegt. Ich habe das in der alten Funktion als Direktor der Landeszentrale für politische Bildung, aber auch in meiner Eigenschaft als Mitglied des Kultursenats häufig angemahnt: Einen Bildungsnotstand, den auch die aktuelle Regierung, insbesondere die CDU-geführte Regierung zu verantworten hat.
    Heinemann: Wieso läuft denn das genau gerade in Sachsen so schief, wie Sie behaupten?
    Richter: Ich bin weit davon entfernt, dem Sachsen-Bashing beizuspringen. Wissen Sie, die Bundesrepublik Deutschland könnte es sich insgesamt auch sehr leicht machen, und da bin ich dagegen, das ganze Problem auf Sachsen abzuschieben. Das gibt es tendenziell überall in der Republik. Nur in Sachsen haben wir ein paar Besonderheiten, die auch nicht unbedingt nur mit Sachsen zu tun haben. Die NPD hat schon vor 10, 15 Jahren hier in diesem Land investiert mit verschiedenen Maßnahmen. Die Staatsregierung hat das schöngeredet. Wir haben eine Vernachlässigung der politischen Bildung, auch der kulturellen Bildung. Das sagte ich schon.
    Und wir haben natürlich auch ein sehr politisierbares Land. Manche Städte in Sachsen sind leichter, auch weil sie größer sind als andere Städte in Ostdeutschland, politisierbar. Das entschuldigt überhaupt nichts, wissen Sie. Das muss ich ausdrücklich hinzufügen. Wenn ich versuche zu erklären, was sich in diesem Bundesland hier tut, heißt das mitnichten, dass ich irgendetwas entschuldige, schon gar nicht einzelne Bürger, die sich in der Nähe anderer Bürger aufhalten, die den Hitler-Gruß zeigen. Das ist nicht zu entschuldigen, das ist nicht hinzunehmen.
    "Die zivilgesellschaftliche Infrastruktur ist nicht entwickelt"
    Heinemann: Entschuldigung, wenn ich da kurz eingreife.
    Richter: Natürlich.
    Heinemann: Viele Menschen wollen nicht, dass man sie nur wegen einer Teilnahme in die rechte Ecke drängt. Reicht es, wenn man sagt, wer Angela Merkels Migrationspolitik ablehnt, der ist ein Rechter?
    Richter: Das reicht natürlich nicht, Herr Heinemann. Außerdem: In solchen Situationen wie jetzt in Chemnitz, da ist das Kind in den Brunnen gefallen. Da sind die guten Ratschläge wohlfeil. Die will ich nicht geben. Nein, im Vorfeld muss gearbeitet werden. Wir haben folgendes festzustellen: Die ökonomische und auch die technische Infrastruktur in vielen Städten Ostdeutschlands ist gut entwickelt.
    Aber die soziale, die zivilgesellschaftliche, die politische, auch die ethische Infrastruktur einer Gesellschaft ist nicht entwickelt, und wir haben es mit einer Politik zu tun, die diese Bereiche nachhaltig und auch über längere Zeit hin vernachlässigt hat. Und sie steht jetzt ziemlich ratlos vor dem Ergebnis dieser Vernachlässigung. Insofern befinden wir uns tatsächlich in einer schwierigen Situation. Da gilt es natürlich, nicht die Nerven zu verlieren. Der Rechtsstaat muss sein Gewaltmonopol wiederherstellen. Aber darüber hinaus muss intensiv zivilgesellschaftlich gearbeitet werden.
    Heinemann: Wie wollen Sie konkret in Meißen Chemnitzer Verhältnisse verhindern?
    Richter: Wissen Sie, ich habe eine sehr gute Erfahrung gemacht. Ich habe im Jahr 2011 auf Anregung des damaligen amtierenden Oberbürgermeisters von Dresden, Dirk Hilbert, die Arbeitsgruppe 13. Februar geleitet, nachdem es 2011 heftige gewalttätige Auseinandersetzungen um den 13. Februar in Dresden gegeben hat. Da haben wir mit Kollegen in der Landeszentrale intensiv ein ganzes Jahr lang mit den zivilgesellschaftlichen Kräften der Stadt Dresden gearbeitet und ich habe damals gelernt: Der innere Frieden einer Stadt, einer Bürgerschaft, der ist täglich neu zu erarbeiten.
    Das ist eine Aufbauleistung, die genauso geleistet werden muss wie die Sanierung von Straßen oder von Brücken. Wenn man das tut, wenn man die Zivilgesellschaft stärkt, dann ist sie in solchen Extremsituationen, wie wir sie jetzt in Chemnitz erlebt haben, vorbereitet, konstruktiv und auch stark den rechtsextremistischen und auch den Rattenfängern, die dahinter stecken, entgegenzutreten. Das ist eine Arbeit, die man das ganze Jahr über leisten muss und nicht erst dann, wenn wie in diesem Fall hier in Chemnitz, das Kind in den Brunnen gefallen ist im Sinne dieser Metapher-Gestalt.
    Heinemann: Herr Richter, gehen die Medien fair mit Sachsen und Chemnitz um?
    Heinemann: Ostdeutschland ist stärker osteuropäisch geprägt
    Richter: Ja, die Sachsen müssen sich daran gewöhnen. Wir alle müssen uns daran gewöhnen, dass Medien kritisch sind, und das bleiben sie, bitte, hoffentlich auch, Herr Heinemann.
    Heinemann: Die Frage war fair.
    Richter: Ja, fair. Ich darf hinzufügen - das wäre jetzt der zweite Teil der Antwort gewesen -, dass tatsächlich manche Berichterstattung nach wie vor als eine, aus westdeutscher Perspektive ein wenig belehrend daherkommende Berichterstattung ist, so als sei Sachsen quasi ein bisschen so was wie fremdes Ausland. Da können wir schon noch ein bisschen besser werden, die besondere ostdeutsche Perspektive auf die Entwicklung deutlicher zu machen. Ich will nicht klagen. Die Ostdeutschen müssen wirklich nicht jammern. Aber sie dürfen doch selbstbewusst zum Ausdruck bringen, dass manche Entwicklungen der Politik von östlicher Seite anders bewertet werden als aus westlicher Seite.
    Heinemann: Sie haben in einem Interview in der "Süddeutschen Zeitung" gesagt, in vielerlei Hinsicht tickten die Sachsen kulturell und politisch mehr wie Polen und Ungarn. Wie sollte man damit umgehen?
    Richter: Ja. Ich weiß nicht genau, wo diese schwer zu definierende Grenzlinie zwischen West- und Osteuropa läuft. Die läuft irgendwo auch mitten durch Deutschland hindurch. Es gibt einen Teil der Bundesrepublik Deutschland, der die Liberalisierungs- und Pluralisierungs- und auch ein wenig die Amerikanisierungswellen nicht mitgemacht hat wie der westliche Teil Deutschlands. Das scheint mir doch sehr wesentlich zu sein.
    Der östlichste Teil der Bundesrepublik ist kulturell doch sehr stark geprägt vom Blick nach dem Osten oder nach dem Südosten. Wir haben beispielsweise hier in Sachsen ja eine sehr homogene Bevölkerung. Wir haben ein sehr topographisch, geographisch, auch historisch kohärentes Land vor uns, das wenig mit Pluralisierung und Vielfalt Erfahrung hatte, das in vielerlei Hinsicht ja doch so ähnlich tickt wie beispielsweise Polen. Das ist keine Bewertung, wenn ich das so sage. Es ist nur eine Feststellung, und diese Vielfalt ist auch ein Wert in Deutschland an sich. Das, glaube ich, müssten wir in Zukunft intensiver diskutieren.
    Heinemann: Frank Richter, Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters in der Stadt Meißen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Richter: Bitte schön! Sehr gerne.
    Heinemann: Nachtragen müssen wir noch, dass den im Internet veröffentlichten Haftbefehl eines mutmaßlichen Täters der Messerattacke von Chemnitz offensichtlich ein Dresdener Justizvollzugsbediensteter weitergegeben hat. Der Mann wurde mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.