Stefan Heinlein: Frankreich ist Weltmeister, nicht nur im Fußball; auch beim Thema Streik und Arbeitskampf ist unser Nachbarland ganz vorne in der Weltrangliste. Die Franzosen gehen gerne und leidenschaftlich auf die Straße, um der Regierung die Marseillaise zu blasen.
An diesem Wochenende nun sind die Proteste eskaliert. Brennende Barrikaden am Champs Élysées, landesweit gab es mehr als 130 Festnahmen und zahlreiche Verletzte. Der Protest der Gelbwesten richtet sich gegen die Reformen der Regierung. Präsident Macron reagiert wütend. Diese Woche will er erneut reagieren auf die wachsenden Proteste, über die ich jetzt reden will mit der französischen Journalistin Cécile Calla, lange Jahre Deutschland-Korrespondentin der Tageszeitung "Le Monde". Guten Morgen! Bon jour!
Cécile Calla: Guten Morgen!
Heinlein: Frau Calla, was steckt hinter dieser gelben Wut? Warum gehen die Franzosen jetzt auf die Barrikaden?
Calla: Diese Bewegung ist etwas ganz Neues, weil sie nicht durch eine Organisation oder eine Partei entstanden ist. Sie ist auch nicht in einer bestimmten Region entstanden, sondern sie kommt wirklich vom Volk. Das ist ein Ausdruck der Wut, ein Ausdruck der Franzosen. Es war ein sehr unterschiedliches Publikum, aber sie haben einen gemeinsamen Nenner. Es sind Franzosen, die das Auto benutzen müssen, weil sie in ländlichen Regionen leben oder an der Peripherie von Metropolregionen, wo der öffentliche Verkehr nicht so entwickelt ist oder sich zurückgezogen hat, wo Zuglinien zum Beispiel geschlossen wurden.
Es sind Leute, die oft Einfamilienhäuser haben, die aber nicht viele finanzielle Mittel haben, und für die ist jetzt die Erhöhung der Spritpreise der Tropfen zu viel. Es ist der Ausdruck einer steuerlichen Ungerechtigkeit oder sozialen Ungerechtigkeit, die aber schon lange existiert in dieser Bevölkerung.
"Manchmal ist die Radikalisierung ein Ausdruck der Schwäche"
Heinlein: Dennoch, Frau Calla, das müssen Sie uns erklären. In Deutschland ist der Sprit ja auch so teuer, wie schon lange nicht mehr, und viele Leute sind auch gerade bei uns in der Peripherie auf dem Land auf ihr Auto angewiesen. Dennoch gibt es hier keine Demonstrationen, es brennen keine Barrikaden. Sie kennen beide Länder. Was ist der Grund, warum die Franzosen so ganz anders reagieren als wir Deutschen?
Calla: Erst mal würde ich auch unterstreichen, dass die wirtschaftliche Lage eine andere ist in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit ist keineswegs so hoch wie in Frankreich. In Frankreich haben wir noch knapp zehn Prozent Arbeitslosigkeit. Aber das ist nicht der einzige Grund. Wir haben auch ein unterschiedliches System, das föderalistische System in Deutschland mit den Landtagen, mit den Kompetenzen, die die Länder haben, die Stärke der Gewerkschaften in Deutschland. Die Mitgliederzahlen sinken zwar, aber trotzdem sind sie im Vergleich zu Frankreich viel höher. Damit will ich sagen, dass es einfach unterschiedliche intermediäre Körper gibt in Deutschland, die die Interessen oder den Frust oder die Wut von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, glaube ich, besser vertreten können und nach oben bringen können als in Frankreich, wo alles sehr zentralistisch ist.
Trotz der vielen Reformen, damit die Regionen mehr Kompetenzen bekommen, wird trotzdem sehr viel zentralistisch entschieden und auch umgesetzt. Auch die Assemblée Nationale in Paris hat ja weniger Kompetenzen als der Bundestag in Deutschland und insofern, wenn die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen den Eindruck haben, sie bleiben ungehört, sind oft die Proteste oder die Streiks auch radikaler als in Deutschland.
Heinlein: Frau Calla, das ist keine Frage des Temperamentes, wenn ich Sie richtig verstehe, sondern eher eine Frage der politischen Kultur? Viele Franzosen fühlen sich nicht vertreten durch die politischen Parteien und schon gar nicht durch die Zentralregierung in Paris?
Calla: Ja! Die Fünfte Republik ist so aufgebaut, dass die Macht zentral ist und dass es auch eine starke Personalisierung der präsidentiellen Macht gibt. Emmanuel Macron hat das auch voll erfüllt. Er hat es auch immer wieder unterstrichen, dass die Franzosen angeblich die vertikale Macht auch genießen.
Ich glaube, dass dieser Protest der gelben Warnwesten vielleicht eine Warnung ist in Richtung Élysée-Palast zu Macron, um zu zeigen, dass die Art, wie er die Macht ausübt, vielleicht doch nicht so gut ankommt, dass die Leute sich nicht erhört fühlen und dass dieses System der Fünften Republik doch vielleicht eine Reform brauchen würde, weil es vielleicht nicht mehr zeitgemäß ist. Zumindest ist das eine sinnvolle Interpretation.
Was ich noch sagen will ist: Die Bilder, die wir jetzt am Wochenende gesehen haben aus Paris, sind natürlich beeindruckend mit diesen brennenden Barrikaden. Aber es gab auch viel weniger Menschen auf der Straße als vor einer Woche. Wir hatten etwa 100.000 gelbe Warnwesten überall in Frankreich. Das ist fast dreimal weniger als vor einer Woche. Manchmal ist auch die Radikalisierung ein Ausdruck der Schwäche.
"Das ist nicht eine Bewegung, die durch eine Partei entstanden ist"
Heinlein: Nun gibt es den Vorwurf oder die Ankündigung des Innenministers, der gesagt hat, die extreme Rechte heize diese Proteste bewusst an. Frau Calla, wie berechtigt ist dieser Vorwurf? Welche Rolle spielt Marine Le Pen und ihre Bewegung?
Calla: Na ja, Marine Le Pen hat schon in der Tat ein Kommuniqué veröffentlicht, wo sie ihre Unterstützung unterstreicht für die Gelbwesten. Aber ich würde da nicht so sehr ein Amalgam machen, weil bei den Leuten, die am Samstag auf die Straße gegangen sind, und eine Woche davor gibt es sehr viele, die gar nicht wählen, die gar nicht mal für die Partei von Marine Le Pen wählen. Es gibt sicher ein paar Elemente, die rechtsextremistisch sind, so wie es sicher auch linksextremistische Leute gibt. Aber das funktioniert auch nicht. Das hat auch die Partei von Nicolas Sarkozy Les Republicains gespürt. Die versuchen auch, davon zu profitieren. Aber man muss wirklich unterstreichen, das ist nicht eine Bewegung, die durch eine Partei entstanden ist.
"Insgesamt gibt es eine große Unterstützung innerhalb der Bevölkerung"
Heinlein: Auslöser der Proteste – Sie haben es gesagt – sind die hohen Spritpreise, der Widerstand der Pendler, aber auch ein Misstrauensvotum gegen Emmanuel Macron, gegen seine Reformpolitik. Haben viele Franzosen das Gefühl, ihr Präsident tanzt auf der großen internationalen Bühne, auch hier in Deutschland ist er ja durchaus populär, aber er ist in der Heimat kaum präsent, er kümmert sich nicht um die Sorgen und Nöte der kleinen Menschen?
Calla: Ja! Das hat er auch selber anerkannt. Vor etwa zehn Tagen hat er eine Art Mea Culpa gemacht und hat erklärt, er habe es nicht geschafft, das französische Volk mit seinen politischen Verantwortlichen zu versöhnen. Und das war ja das große Versprechen, als er im Mai 2017 gewählt wurde. Man muss auch daran erinnern: Als er gewählt wurde, haben sich zwölf Millionen Franzosen ihrer Stimme enthalten. Vier Millionen haben ungültige Stimmen abgegeben. Das heißt, sehr viele Franzosen haben gar nicht gewählt oder gar nicht für ihn gewählt.
Deswegen war die große Aufgabe, dass er die Leute wieder abholen kann, und offenbar sehen wir mit diesem Protest, dass ein Teil der Bevölkerung sich von ihm zumindest ignoriert fühlt, wenn nicht verachtet. Und man muss auch unterstreichen, dass diese Bewegung eine große Unterstützung findet in der Bevölkerung. Das ist erstaunlich. Vor einer Woche gab es schon drei Viertel der Franzosen, die sich hinter diese Bewegung gestellt haben in den Umfragen, und die Zustimmung ist noch gewachsen nach einer Woche. Jetzt weiß ich nicht, wie es aussieht nach den Barrikaden. Vielleicht ist es ein bisschen gesunken. Aber insgesamt gibt es eine große Unterstützung innerhalb der Bevölkerung.
Heinlein: Frau Calla, Sie sagen es: Drei Viertel der Franzosen stehen hinter den Gelbwesten, so zumindest die Umfragen. Nun will in dieser Woche Macron ja einen Sozialpakt vorstellen. Wird das ausreichen, um die Proteste zu beenden?
Calla: Ich glaube, es muss eine langfristige Bewegung, eine langfristige Entwicklung geben, und langfristig müssen die Menschen den Eindruck haben, dass der Präsident, die Regierung einfach diese Menschen mehr berücksichtigen. Ein sozialer Pakt geht natürlich in die richtige Richtung, aber ich glaube, die Regierung muss sich auch mehr erklären. Ich glaube, es ist auch eine Frage der politischen Kommunikation, wie oft, und es ist auf jeden Fall diese Entscheidung am Anfang seines Mandats, die quasi Streichung der Vermögenssteuer. Die ist sehr, sehr schlecht angekommen in der Bevölkerung.
Sie mag vielleicht Sinn haben, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, aber das ist etwas, was immer wieder kommt, wenn man diese Menschen, die auf der Straße protestieren, befragt, dass sie den Eindruck haben, dass die ganze Fiskalpolitik für die Reichen gemacht wird.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen die französische Journalistin Cécile Calla. Mercie bien! Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören!
Calla: Danke schön!
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