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Ausschreitungen in Washington
"Joe Biden hat die Aufgabe, die Nation zu befrieden"

Die Publizistin Constanze Stelzenmüller ist sich sicher, dass die Unruhen in den USA noch nicht vorbei sind. Der noch amtierende US-Präsident Donald Trump zeige keine Einsicht und Teile der republikanischen Partei stünden noch immer hinter ihm, sagte sie im Dlf.

Constanze Stelzenmüller im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
United States President-elect Joe Biden delivers remarks from the Queen Theatre in Wilmington, Delaware on the unrest in and around the US Capitol in Wilmington, Delaware on Wednesday, January 6, 2021. In his remarks Biden condemned Trump for inciting the violence. Credit: Biden Transition via CNP
Biden spricht über die Ausschreitungen in Washington (Consolidated News Photos)
Constanze Stelzenmüller ist Politikexpertin an der Brookings Institution in Washington, eines der angesehensten amerikanischen Forschungsinstitute. Sie verfolgt dort seit vielen Jahren die Entwicklungen in der US-amerikanischen Politik. Die gefasste Reaktion der neugewählten Biden-Regierung auf die aktuellen Unruhen hält Stelzenmüller für bewundernswert. Sie lobte die "Ernsthaftigkeit, das völlige Fehlen von irgendwelcher Hysterie". Joe Biden müsse jetzt Brücken bauen und sich auch mit den Republikanern zusammensetzen, so Stelzenmüller.
Trump-Anhänger stürmen Kapitol - "Für die gesamte Nation beschämend"
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Jackson Janes ist bestürzt über die Unruhen in Washington und das gewaltsame Vorgehen der Trump-Anhänger. Die Frage sei nun, wie man Trumps Unberechenbarkeit in den letzten zwei Wochen seiner Amtszeit kontrollieren könne, sagte Janes im Dlf.
Den Grund für die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft sieht sie als Folge der Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 und 2009. Durch diese Krise seien sowohl soziale, wirtschaftliche und politische Ungleichheiten vertieft worden. Viele Menschen in den USA fühlten sich abgehängt und seien wütend. Nach Ansicht Stelzenmüllers entlädt sich unter anderem diese Wut bei den aktuellen Ausschreitungen.
Tobias Armbrüster: Woher kommt Ihrer Einschätzung nach die Gewalt dieser Anhänger von Donald Trump?
Constanze Stelzenmüller: Ich glaube, das liegt daran, dass hier seit Jahren und Jahrzehnten zwei Dinge stattgefunden haben: Es sind im Zuge, insbesondere im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 2008 und 2009, hier bestehende soziale, wirtschaftliche, politische Ungleichheiten vertieft worden. Es sind Menschen genuin abgehängt worden, und gleichzeitig durch das Aufkommen der sozialen Medien sind Filterblasen entstanden, die die bereits existierende Polarisierung der Gesellschaft noch massiv verstärkt haben und diese Leute in eine selbst gewählte Isolation getrieben haben. Da hat sich Frustration in Form des Gefühls des Nichtgehörtwerdens aufgestaut, die entlädt sich hier. Wir sollten vielleicht auch darauf hinweisen, es hat ähnliche Besetzungsversuche landesweit gegeben nämlich, ich glaube in knapp zehn Staatenparlamenten, soweit ich das gesehen habe. Das heißt, dass das nicht nur in Washington passiert.

"Der Präsident zeigt überhaupt keine Einsicht"

Armbrüster: Dann stellt sich da automatisch die Frage, die ich seit gestern Abend vor allen Dingen in amerikanischen Fernsehsendern immer wieder höre, und das ist die Frage: Ist das hier dann das Ende von einer Entwicklung oder möglicherweise erst der Anfang?
Stelzenmüller: Mit Sicherheit sind diese Ereignisse heute nicht vorbei, schon deshalb, weil der Präsident überhaupt keine Einsicht zeigt und weil ein Teil der republikanischen Partei trotz der Abwärtsbewegung weiterhin zu ihm hält. Es hat einige sehr eindrucksvolle Auftritte eben in der Zertifizierungssitzung gegeben, unter anderem von dem Senator Josh Hawley, der bekanntlich heute Morgen noch den Protestierenden, Entschuldigung, diesem Mob die erhobene Faust gezeigt hat zum Gruß. Es hat der Abgeordnete Matt Gaetz aus Florida eine leidenschaftliche Rede gehalten, die die Behauptung noch mal wiederholt hat, dass diese gesamte Wahl getürkt worden sei. Diese Auseinandersetzung ist weder in Washington auf der Ebene der Parteiführung und der Abgeordneten vorbei noch, fürchte ich, im Lande.

"Es gibt Gerüchte über Rücktrittserwägungen im Kabinett"

Armbrüster: Was können wir dann sagen, wie berechenbar sind die USA noch unter diesem Präsidenten Donald Trump, der ja noch einige Tage im Amt sein wird?
Stelzenmüller: Es gibt jetzt Gerüchte in Washington, die von Journalisten berichtet werden, dass im Kabinett über eine Anwendung des 25. Verfassungszusatzes Absatz 4 diskutiert wird, wonach der Präsident abgesetzt werden könnte, falls er geschäftsunfähig sei. Das setzt allerdings eine besondere Mehrheit voraus. Es ist nicht klar, dass das wirklich gegeben ist. Andererseits gibt es gleichzeitig hier auch Rücktritte, Gerüchte über Rücktrittserwägungen im Kabinett. Man muss schon das Gefühl haben, dass hier die Verfallserscheinungen deutlicher und schneller geworden sind.

"Ich bewundere die gewählte Regierung"

Armbrüster: Und wo könnten die hinführen, diese Verfallserscheinungen?
Stelzenmüller: Die rechtlichen Schwellen für die Anwendung des Verfassungszusatzes sind sehr hoch, aber bereits die Tatsache, dass das anscheinend ernsthaft diskutiert wird, ist von Bedeutung für die Stimmung im Land. Ich bewundere die gewählte Regierung von Biden, die sich ja langsam konstituiert, und Biden selbst, für die Gefasstheit, mit der sie auf all diese Situationen reagieren, die Ernsthaftigkeit, das völlige Fehlen von irgendwelcher Hysterie, mit der sie hier reagieren, aber irgendwann man muss sich die Führung der republikanischen Partei zusammensetzen mit den Demokraten und überlegen, wie das hier weitergehen kann. Ein Zeichen dafür ist vielleicht, dass der Noch-Verteidigungsminister Miller sich wegen der Sicherheitslage nicht etwa mit dem Präsidenten besprochen hat, sondern mit den Mehrheitsführern im Parlament, Pelosi und [unverständlich]. Dort zeigt sich, wohin die Richtung gehen könnte.

"Joe Biden hat die Aufgabe Brücken zu bauen"

Armbrüster: Welche Aufgabe kommt denn jetzt auf Joe Biden zu, wenn er in einigen Tagen ins Weiße Haus einzieht?
Stelzenmüller: Tja, noch sind das zwei Wochen, knapp zwei Wochen. Joe Biden hat die Aufgabe, die Nation zu befrieden, hat die Aufgabe, Brücken zu bauen zwischen seinen eigenen Anhängern und dem Lager der Enttäuschten. 81 Millionen Amerikaner haben für ihn gestimmt, 84 Millionen, Entschuldigung, für ihn, 71 Millionen für Trump, dazwischen liegt ein gewaltiger sozialer, ökonomischer, politischer Graben, und der will überbrückt werden. Ihm ist das völlig klar, er hat das auch immer wieder gesagt, nicht zuletzt in seiner Annahmerede. Aber wie das in der Praxis zu leisten ist, das wird eine der größten Herausforderungen in der Erinnerung der lebenden Amerikaner sein, und das umso mehr, glaube ich, weil ja die Nachricht von heute Morgen war, dass die Demokraten jetzt auch die Mehrheit im Senat haben mit den beiden Senatorenstellen in Georgia.

"In zwei Jahren sind schon wieder Zwischenwahlen"

Armbrüster: Darüber wollte ich noch mit Ihnen sprechen. Das ist ja eine Nachricht, die an normalen Tagen eine Sensation gewesen wäre und die heute fast schon wieder untergeht – die Demokraten sichern sich auch die Mehrheit im Senat, in der zweiten Kammer des US-Kongresses. Wie wichtig ist das für Joe Biden?
Stelzenmüller: Es ist sowohl eine Befreiung als auch eine Komplikation. Es ist eine [unverständlich] eher mit einer republikanischen Mehrheit im Senat, der entscheidend mitwirkt an der Gesetzgebung, darauf angewiesen wäre, viele seiner Regierungsentscheidungen per Präsidialakt vorzunehmen – Präsidialakte sind leichter aufzuheben als Gesetze. So kann er tatsächlich viel strategischer und weiter ausgreifen. Es ist eine Komplikation, weil die Tatsache, dass jetzt die Demokraten den Präsidenten haben, die Mehrheit im Kongress und die Mehrheit im Senat dem progressiven, also dem linken Flügel der Demokraten Oberwasser gibt, die jetzt natürlich Forderungen stellen werden sowohl personeller Art als auch inhaltlicher Natur. Sie werden wollen, dass ihre Positionen berücksichtigt werden, und das wiederum wird es für Biden etwas schwerer machen, Brücken zu bauen. Aber er kann nicht handeln in seiner Präsidentschaft, ohne auch zuzugehen auf die Republikaner. Und noch einen wichtigen Punkt möchte ich machen: Wir sollten alle nicht vergessen, dass in zwei Jahren schon wieder Zwischenwahlen sind und dass sehr viele dieser demokratischen Siege im Repräsentantenhaus, aber auch im Senat extrem knappe Siege waren. Das heißt, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass in den Zwischenwahlen da wieder Sitze an die Republikaner zurückgehen, wenn Biden es nicht gelingt, diese Brücken zu bauen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.