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Außenseiter vor der Kamera

Diane Arbus' Bilder erzählen vom verborgenen Amerika, von Menschen in einer feindlichen Gesellschaft, von Freaks und Außenseitern. Nun widmet das Fotomuseum Winterthur der vielleicht größten Porträtfotografin der Geschichte eine Retrospektive.

Von Christian Gampert |
    Nebenan, in der Fotostiftung Schweiz, präsentiert der stets in Serien arbeitende westschweizerische Fotokünstler Jean-Luc Cramatte seinen Blick auf sein Heimatland: "Inventar" heißt die Ausstellung, sie zeigt Bäume und Büros, unspektakuläre, graue Landschaften, den Kampf der Natur gegen die Verstädterung, verfallende Bauernhöfe, industriell überwucherte Geschichte, Randzonen. Das ergänzt sich ziemlich gut mit der großen Diane-Arbus-Schau im Fotomuseum, denn auch sie bietet ein Inventar, allerdings eines ganz anderer Art: Hier geht es um den Kampf des Menschen um ein bisschen Glück in einer zumeist feindlichen Gesellschaft, hier geht es um Freaks, um Außenseiter, um Amerika.
    Diane Arbus ist eine der größten Porträtfotografinnen der Geschichte. Beeindruckend ist nicht nur die schöne, karge Struktur dieser Bilder, beeindruckend ist die offensichtliche Fähigkeit dieser Frau, eine Beziehung zu den Fotografierten herzustellen. Hier wird niemand voyeuristisch ausgenutzt, nur weil er Nudist, Zwerg, Transvestit, Topless Dancer, Riese, geistig behindert oder einfach arm ist. Die Porträtierten bieten sich in ihrer zumeist traurigen Realität dar – aber sie behalten eine Stärke und Würde, sie stehen auf ihrer eigenen Bühne, sie zeigen etwas von ihrer Individualität. Und: sie können uns in die Augen schauen. Diese Kontaktfähigkeit und Empathie, meint Urs Stahel, der Direktor des Fotomuseums Winterthur, sei die größte Gabe der Fotografin Diane Arbus.

    "Porträtfotografie ist für mich eine versteckte performative Fotografie, die extrem von einer Begegnung erzählt. Und die große Stärke von Diane Arbus ist genau diese Begegnung, denn sie will diese Menschen sehen, sie sucht sie, sie will ihnen begegnen, und sie will mit ihnen etwas erleben für die Zeit der Fotografie."

    Daraus entstehen dann Bilder, die im Sinne eines gesellschaftlichen Kaleidoskops viel erzählen von der Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre in Amerika, als die sexuellen Minderheiten ihre Rechte einforderten oder sich überhaupt einmal zeigten. Andererseits gibt es in der Welt der Diane Arbus auch die Vietnam-Veteranen und Pro-Kriegs-Marschierer, die vernagelten Reaktionäre und reichen alten Damen – auch sie erregen auf diesen Bildern unser Mitgefühl.

    Arbus kam aus einer wohlhabenden russisch-jüdischen Familie, die in New York ein Pelzgeschäft betrieb. Jedes Kind hatte ein eigenes Kindermädchen. In diesem Oberschichtskokon spürt man das wahre Leben offenbar nur unzureichend, und im Grunde sind Arbus‘ Unterschichtsporträts der Gegenentwurf zu ihrer behüteten Kindheit. Nach früher Heirat, zwei Kindern und Brotberuf, gemeinsam mit ihrem Mann betrieb sie ein Fotoatelier, kam in den 50iger Jahren die Trennung – und eine etwa 15jährige, ungemein produktive fotografische Phase, in der sie nachts auf Trebe ging, um Menschen nahezukommen. Vielleicht waren die Bilder ja nur Nebenprodukt, meint Kurator Urs Stahel. Jede Fotositzung ein Blind Date, auf dem Fremde ihr etwas von sich zeigten und ihr Leben erzählten.

    " Mein Gefühl, wenn ich das sehe, ist: die sucht Leben. Sie sucht Nähe. Vielleicht kann man sogar sagen, dass sie diese Begegnungen sucht, damit sie ihr eigenes Leben spürt."

    Neben dem fast gleichaltrigen Reportagefotografen Robert Frank ist Diane Arbus sicherlich die Fotografin, die uns am meisten über dieses verborgene Amerika erzählt, das aus weinenden Kindern, unterdrückten Schwarzen und sexuellen Außenseitern besteht. Nur die weitaus jüngere Nan Goldin erreicht eine ähnliche Intimität in der Darstellung privater Situationen. Die Winterthurer Ausstellung folgt, und das ist sehr gewagt, keiner nachvollziehbaren Struktur, sie hängt einfach menschliche Schicksale nebeneinander; nur die geistig Behinderten, die von Arbus in großer Pietät fotografiert werden, haben eine eigene Abteilung, in der einen manchmal eine Mischung aus Mitleid und Achtung überkommen möchte. Es gibt allerdings wiederkehrende Motive: die merkwürdig spießig wirkenden Nudisten, die Transvestiten, Nutten, Schönheitsköniginnen, arme Mütter, reiche Ehepaare beim Tanz, Drillinge, Riesen, Liliputaner, Vollkörpertätowierte, Bodybuilder. Amerika, das Land der unbegrenzten Absonderlichkeiten.

    Es sind aber gar nicht die bizarren Dinge, die im Kopf bleiben. Es ist viel eher die unendliche Traurigkeit dieser jungen Liebespaare im Central Park, die heulenden, sabbernden, zahnenden Kinder auf dem Arm überforderter Mütter, der starre Blick der Wohlhabenden. Diese Leute bewahren ein Geheimnis, und die Bilder der Diane Arbus tun das auch. Schau, ein Mensch: DER Mensch. Diane Arbus hat ihn für uns aufbewahrt.