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Ausstellung "ABC des Reisens" in Berlin
Sich einfach treiben lassen

Wo fahre ich hin und was gucke ich mir an? – Fragen, die permanent auf Reisen gestellt werden und die auch die Reiseliteratur beschäftigen. Die Kunstbibliothek in Berlin zeigt ein Panorama der Geschichte des Reisens, in der es auch immer um das Zeigen von Erlebnissen ging.

Von Christine Habermalz |
    Eine Frau steht in 50er-Bademode an einem Wagen aus den 50ern. Der Wagen steht am Strand, am Meer.
    Die weite Welt entdecken: Ab den 50ern wurde das Reisen für immer mehr Menschen in der Bundesrepublik leistbar. (imago/Gerhard Leber)
    Schon der Sound der Ausstellung stimmt nostalgisch. Es ist das Geräusch eines Super-8-Projektors, wie viele ihn aus den 70er-Jahren noch kannten, als die ersten selbst produzierten Urlaubsfilme von stolzen Familienvätern knatternd an die Wand geworfen wurden.
    Hier ist der Ton Teil der Installation "Voyage On the North Sea" des Konzeptkünstlers Marcel Broodthaers aus dem Jahr 1972. Ein Projektor wirft Schwarz-Weiß-Filmsequenzen von Meer und Segelbooten an die Wand. Dazwischen eingeblendete Seitenzahlen. Was ist das? Ein Buch, Film, persönliches Reisealbum?
    Der Projektor als zentrales Element der Ausstellung steht, wenn man so will, für das, was Reisen bis heute ausmacht: entscheidend ist nicht so sehr, was erlebt, sondern wie darüber kommuniziert wird. Ein Thema also wie geschaffen für die Kunstbibliothek mit ihren vielfältigen medialen Sammlungen, die sich diese kleine feine Ausstellung quasi selbst zum 150. Geburtstag geschenkt hat.
    Wie dokumentiere ich meine Reise
    "Es geht immer darum, wie berichte ich davon, wie dokumentiere ich meine Reise, wie werbe ich für eine Reise, die noch ansteht, wie präpariere ich mich für eine Reise", sagt Kuratorin Christina Thomson. "Und all diese Sachen müssen kommuniziert werden mit Medien, die in der Kunstbibliothek in den Sammlungen zu finden sind. Und das ist das, was das Ganze so spannend macht."
    Christina Thomson steht vor einer Vitrine mit alten Büchern
    Christina Thomson präsentiert Exponate der Ausstellung "ABC des Reisens" (Christoph Soeder/dpa)
    "ABC-des Reisens" – unter diesem Titel blättert die Kunstbibliothek ein Panorama der Geschichte des Reisens auf – von mittelalterlichen Pilgerreisen nach Jerusalem bis hin zum Jetset der Reichen und Schönen. Bewusst verzichtet die Schau auf jede Chronologie – dafür reicht ein rudimentärer Zeitstrahl an der Wand mit ein paar Daten.
    800 vor Christus verfasst Homer die Odyssee – einen der frühesten Reiseberichte überhaupt.
    1271 bricht Marco Polo nach China auf.
    1830 wird in England die erste Eisenbahnstrecke in Betrieb genommen.
    1972 wird das Interrailticket eingeführt.
    2017 waren weltweit mehr als 1,3 Milliarden Touristen unterwegs.
    Alphabetischer Parcours
    Stattdessen wird die Kulturgeschichte des Reisens anhand eines alphabetischen Parcours aufbereitet – von A wie Album bis Z wie Ziel.
    "Es ist ein Klebealbum aus dem 19. Jahrhundert dabei, von einem ehemaligen Bibliothekar, angestellt in der königlichen Bibliothek, der natürlich Zugang hatte zu vielen Druckmaterialien und die gesammelt und geklebt hat", sagt Thomson. "Mendelssohn-Zeichnungen von seinen Reisen in die USA; also es ist eine Vielfalt, hinter mir sind auch noch Fotoalben und Stiche, eine Vielfalt von Medien, die zu einem Thema interessante Aspekte liefern können."
    Ein Album ist ein wichtiges persönliches Zeugnis, es verrät, was den Reisenden inspiriert hat – etwa den Architekten Erich Mendelssohn, der 1924 vom Verleger Rudolf Mosse eine Reise in die USA finanziert bekam. Fasziniert skizzierte er in seinem Notizblock Gebäude, Brücken, Landschaften der neuen, freien Welt.
    Unter G wie "Grand Tour" läuft die Erfindung der Bildungsreise – ausgelöst durch den Boom der Reiseliteratur im 17. Jahrhundert. Vor allem Italien war das Ziel der "Grand Tour", die Söhne Adliger und reicher Bürger wurden dorthin geschickt, um die wichtigsten Kulturstätten zu bereisen.
    Massenverkehr versus Exklusivität
    Mit der Exklusivität war es vorbei, als mit der Eisenbahn das erste erschwingliche Massenverkehrsmittel aufkam.
    "Die Wahrnehmung im 19. Jahrhundert beispielsweise ist schon, als die Eisenbahn dann aufkommt, dass das tatsächlich Massen sind, die sich plötzlich übers Land bewegen und die Landschaft verschandelt wird, etc.", erklärt die Kuratorin. "Das sind dieselben Fragen, die wir uns heute auch noch stellen, nur auf ganz anderem Volumen, aus ganz anderer Perspektive."
    Zeichnung einer Lok, die durch eine Landschaft fährt. Die Leute ringsum winken ihr zu.
    Im Mai 1830 wurde in England die erste Eisenbahnstrecke eröffnet. (imago/United Archives)
    Für die Ausstellung "ABC des Reisens" kann die Kunstbibliothek aus der ganzen Fülle seiner Bestände schöpfen – und, ein bisschen Selbstdarstellung muss sein – im besten Sinne zeigen, was sie hat. Zum Beispiel mit Josef Furthenbachs 1627 erschienenem Reisebericht "Newes Itinerarium Italiae" einen der frühesten Reiseführer überhaupt – der in Deutschland zum Bestseller wurde.
    Thomson sagt: "Der Aufbau von Reiseliteratur ist in barocker Zeit fast noch so wie er heute ist, das ist auch interessant zu sehen. Es geht immer drum: Wo ess ich, wo schlaf ich, und was guck ich mir an?"
    Treiben lassen wie auf Reisen
    Und so kann man sich durch die Ausstellung treiben lassen wie ein Reisender. Jeder Buchstabe bringt neue Erkenntnisse.
    Unter S wie Souvenir erfährt man, dass spätestens seit Erfindung der Fotografie Bilder und Erinnerungen von Reisen konfektioniert wurden – Postkarten, Souvenirfotos waren vorproduziert, zeigten die Schauplätze so, wie man sie zuhause vorzeigen wollte: Aufgeräumt und im Sonnenuntergang.
    Die Buchstaben D E F stehen für die Massen-Transportmittel Dampfschiff, Eisenbahn und Flugzeug. K L M für Koffer Luxus Mode. Was fehlt ist die Welt des heutigen Massentourismus und der modernen Arbeitsnomaden. Doch da reicht es, im Foyer einen Blick in die ausgelegten Kunstbücher zu werfen. Zum Beispiel in den Fotoband der Schweizer Künstler Peter Weiss und David Fischli mit dem Titel: 800 Ansichten von Flughäfen. Ein Tipp: Sie sehen alle gleich aus.