Diese Ausstellung ist zweifellos ein Muss für alle, die sich für die Geschichte der Modernen Avantgarden interessieren, vor allem für diejenigen Teile dieser Geschichte, die in der Folge des Kalten Krieges mehr oder weniger unter den Tisch gefallen sind. Die WChUTEMAS, als Akronym bekannt für die 1920 in Moskau gegründeten "Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten", sind ein elementarer Bestandteil dieser vergleichsweise weitreichende vergessenen Moderne.
Sie wurden natürlich schon deshalb vergessen, weil sich die Sowjetunion Stalins und auch seiner Nachfolger an diesen Teil der Revolutionären Ästhetik jahrzehntelang nicht mehr erinnern wollte. Sie wurde aber auch im Westen vergessen, weil sich der Westen das Erbe der Moderne im Kampf der Systeme als Monopol freiheitlichen Denkens reserviert hätte. Das Drumherum dieser Ausstellung selbst illustriert noch immer die Auswirkungen dieser Zeit.
Bis heute trifft man auf Museen in Deutschland, deren verantwortliches Personal davon ausgeht, dass es eine eigene Moderne in Osteuropa nie gegeben hat und dass alles, was modern war im Osten, nur westlichen Vorbildern gefolgt sei. Diese Ausstellung demonstriert das Gegenteil. Und es hat immerhin ein Vierteljahrhundert gedauert, bis eine solche Ausstellung mit einem monografischen Katalog in einem deutschen Ausstellungshaus zu sehen ist. Auch die Forschungssituation in Moskau ist noch nicht ganz klar. Das Schtschussew Museum für Architektur, das viele Nachlässe ehemaliger Lehrer der WChUTEMAS verwaltet, ist eine historische Schatzkammer, die noch viele unentdeckte Einsichten in die Gesamteuropäische Moderne bereithält.
Versuch der Bewusstseinsbildung
Gereon Sievernich, Leiter des Martin-Gropius-Baus, merkt zu Recht an, dass auch dies erst ein Anfang ist. Von den vielen Wechselbeziehungen etwa zwischen dem Bauhaus und anderen künstlerischen Reforminstituten in West-Europa und ihren russischen Kolleginnen und Kollegen gibt es bislang nur eine oberflächliche Ahnung. Das kann auch diese Schau mit ihren 250 Exponaten nicht leisten. Aber sie kann helfen, ein Bewusstsein dafür zu bilden.
Sie versucht es auch mit Schlagwörtern: Bezeichnet die WChUTEMAS als russisches Bauhaus, um den Publikum in Deutschland einen ersten Anhaltspunkt zu geben. Für die Geschichte der Moderne sind solche Formeln problematisch. WChUTEMAS und Bauhaus, das zeigt diese Ausstellung eindrücklich, sind kaum vergleichbar. Die Moskauer Werkstätten waren breiter angelegt und zugleich in der Organisation weniger hierarchisch auf eine Leitfigur zugeschnitten. Es gab keinen sozialistischen Walter Gropius, sondern es gab Forschungsgruppen und Klassen, die sich um bestimmte Themen versammelten, etwa um die Erforschung des Raumes, nicht von Architektur speziell. Alle Formen, alle Dimensionen von Räumen wurden erforscht. Dazu gehörten auch Entwürfe von Architekturen der Zukunft, aber das Programm reicht von klassischen Gartenstädten über Siedlungsbauten, Theater, Stadien bis zu schwebenden Raumstationen. Hinzu kommen abstrakte, konstruktivistische Entwürfe , wie man sie von Tatlin und El Lissitzki zwar seit langem auch in Deutschland kennt.
Ideologische Richtungskämpfe
Doch hier kommt es auf einen Zusammenhang jenseits der kunsthistorischen „Ismen“ an. Die stilistische und programmatische Vielfalt der Entwürfe zeigt an, dass die WChUTEMAS ein Ort des Streits waren, der programmatischen, teils Ideologischen Richtungskämpfe. Fraktionen gab es zwar am Bauhaus oder bei De Stijl in Holland auch, doch die schiere Menge der Beteiligten und der verschiedenen Positionen zeigt, dass in Moskau alles von Grund auf mit extremer Schärfe verhandelt und ausprobiert wurde. Keine Rede also von einer bloßen Zweitverwertung von Dessauer oder Weimarer Ideen. Die modernen Avantgarden partizipieren länderübergreifend an ähnlichen Streitpunkten, insbesondere um die Frage, ob sich die Avantgarde einer reinen oder angewandten Kunst zuwenden sollte.
Wer auf die Gegenwartskunst blickt, stellt fest, dass diese Fragen nicht geklärt und nach wie vor virulent sind, auch wenn es keine Avantgarden alten Stils mehr gibt. Die WChUTEMAS und ihr so weitreichendes künstlerischen Netzwerk zeigen, dass es eine Internationalisierung der Ideen schon lange gab, bevor der Begriff der Globalisierung überhaupt erfunden war.