Ralf Beil als neuer Direktor will das Kunstmuseum Wolfsburg politischer und weiblicher machen, wie er sagt. Beides sind Merkmale, die das Programm des Hauses in der Tat bislang eher vermissen ließ. Zeitgenössische Kunst aus Lateinamerika wiederum erfüllt beide Kriterien exemplarisch und ist insofern eine gute Einleitung zu Beils Amtszeit. Doch wirklich aussagekräftig ist sie noch nicht.
Das liegt hauptsächlich daran, dass die Werke nicht in Lateinamerika selbst zusammengestellt wurden, sondern dass man dafür auf die Zürcher Privatsammlung Daros zurückgegriffen hat. Diese ist mit ihren insgesamt 1.300 Werken zwar umfangreich und verfügt über eine für europäische Verhältnisse durchaus bedeutende Expertise. Vor allem richtet sich die Daros Collection nicht einfach nur nach den marktgängigen Namen von Künstlern, die es im Westen zu etwas gebracht haben, wie Gabriel Orozco, Felix Gonzales Torres oder Ernesto Neto. So manche Künstlerinnen und Künstler dieser Ausstellung sind in Europa kaum bekannt, während sie in Lateinamerika zu den sehr einflussreichen zählen. Grundsätzlich könnte man hier also eine Menge neuer Werke und Namen kennenlernen.
Marcel Duchamp als Inspirator für die lateinamerikanische Konzeptkunst
Aber die thematische Gliederung der insgesamt über 170 Arbeiten bleibt dennoch beklagenswert oberflächlich. Ewiger Prüfstein ist das ambivalente Verhältnis lateinamerikanischer Künstler zu Europa. Natürlich hatte die europäische Moderne einen großen Einfluss. Ziemlich ausführlich wird in der Ausstellung zum Beispiel Marcel Duchamp als Inspirator für die lateinamerikanische Konzeptkunst abgehandelt. Die Werke, die hier zu sehen sind, zitieren aber im Wesentlichen Duchamps Werke ganz offen. Vom 1965 geborenen Puertoricaner Charles Juhász-Alvarado ist hier etwa ein Schachbrett zu sehen, auf dem die Figuren teilweise durch Miniaturen von Duchamps Werken, dem berühmten Flaschenständer oder dem Urinal ersetzt wurden – Anspielung auch auf Duchamps Leidenschaft für das Schachspiel selbst, die hier zugleich mit seiner Strategie als Künstler gleichgesetzt wird. Was aber hinter solchen Anspielungen steckt, bleibt letztlich vage und allenfalls anekdotisch.
Ebenso verhält es sich mit den überall sichtbaren Bezügen zum Surrealismus: Offenkundig sind es Beschwörung körperlich-psychischer Zustände und sexueller Faszinationen, die die lateinamerikanischen Künstler immer fasziniert haben. Die eindrucksvollsten Arbeiten in dieser Ausstellung stammen von Frauen: Von María Fernanda Cardoso aus Kolumbien beispielsweise mit ihrer aus konservierten Froschleibern gefertigten, kreisrunden Wandinstallation, die als Metapher an die präkolumbianische Kultur erinnern soll. Oder der 1985 in New York tödlich verunglückten Kubanerin Ana Mendieta mit ihren Feuerinstallationen, mit denen sie ihre Seele versinnbildlichen wollte.
Überforderung der Ausstellung durch sich selbst
Die dichte Hängung, der schnelle Wechsel von Räumen aber lässt viel zu wenig Raum für die komplexen Biografien und sozialen Hintergründe – etwa des Werkes von Luis Camnitzer, des Grand Old Man der südamerikanischen Konzeptkunst. Camnitzer floh 1939 als zweijähriger Bub mit seinen jüdischen Eltern aus Lübeck nach Uruguays Hauptstadt Montevideo und sein Werk gehört zu den großen Brücken einer politischen Ästhetik zwischen den Kontinenten. Es wird in dieser Ausstellung völlig zu Recht gegenüber den anderen herausgestellt. Doch daneben müssen natürlich auch noch andere unerlässliche Riesenthemen wie die Kolonialgeschichte, Kriminalität, Unterdrückung von Frauen und Homosexuellen, religiöse Kulte und Armut abgehandelt werden.
Es ist am Ende eine konzeptuelle Überforderung der Ausstellung durch sich selbst. Beste pädagogische Absichten und einige wenige sehr eindrucksvolle Arbeiten vermitteln statt einer vertiefenden Einsicht in die politische Ästhetik Lateinamerikas kaum mehr als ein vages Abziehbild.