Der junge Franzose Ael lebt seit 13 Jahren in einer Hütte im Garten seines Elternhauses. Er ist ein sogenannter Hikikomori, wie es in Japan heißt: Jemand, der sich für immer aus der menschlichen Gesellschaft zurückzieht und lediglich übers Internet kommuniziert. Das Künsterduo Fleuryfontaine hat mit ihm Kontakt aufgenommen, es hat Aels Lebensumwelt in einem Ausstellungsraum rekonstruiert, hat den jungen Mann sogar dazu gebracht, einen nächtlichen Ausflug in die unmittelbare Umgebung mit dem Handy zu filmen. Fleuryfontaine, so die Kunstvereinsdirektorin Franziska Nori, untersucht in seiner Arbeit die Frage der Empathie.
"Wir werden einem Menschen, dem wir uns ansonsten nicht so verbunden fühlen würden, - mit seiner drastischen radikalen Wahl eines Lebensentwurfs - , auf einmal sehr nah. Wir verstehen, wir können uns in ihn hineinversetzen. Und das ist eine wunderbare Sache, die Kunst herstellen kann".
Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit
Lauren Lee McCarthy beschäftigt sich Amazons Wunscherfüllungsmaschine Alexa und arbeitet an einer menschlichen Version. Sie hat Freiwillige gesucht, die sich und ihren Haushalt komplett verkabeln lassen. "Lauren", personifiziert von der Stimme der Künstlerin, ist rund um die Uhr für alle Freiwilligen verfügbar und versucht sich in ihre Probleme einzufühlen. Diverse Videos im Ausstellungsraum zeigen, wie, ob und wann diese Mensch-zu-Mensch-Kommunikation gelingt.
"Was da produziert wird, ist eine Art von Intimität. Das ist Teil einer Analyse, die diese Künstlerin betreibt, um herauszufinden: Wo sind denn eigentlich die Grenzen, mit der Privatheit, Öffentlichkeit, Kommunikation, Einsamkeit, der Wunsch nach Nähe und Sehnsucht, verhandelt werden."
In "How to make a Paradise", dieser Ausstellung mit 9 Positionen junger Künstler und Kollektive, geht es um die Ambivalenz künstlicher Paradiese. Jaakko Pallasvuo zeigt computergenerierte Modulationen menschlicher Gestalten, biegsame und flexibel verformbare Körperschemen, die auf Wind, Gravitation oder Kollision reagieren. Werden wir in der Zukunft schwerelose Metamorphosen unserer Identität erleben? Wird uns das befreien, glücklich machen oder, im Gegenteil, in tiefe Ängste stürzen?
Brauchen wir noch den analogen Ausstellungsraum?
"How to make a Paradise" war lange vor der Corona-Krise geplant, erscheint jetzt aber wie die Ausstellung zur Situation. Wie steht es in Zeiten technologiegesteuerter Kommunikation mit unserem Einfühlungsvermögen, wo erleben wir Momente von Intimität und Nähe, als wie real empfinden wir noch unsere eigene Existenz? Angesichts der präsentierten digitalen Welten fragt man sich: Hätte die ganze Ausstellung nicht genau so gut komplett ins Internet verlagert werden können? Brauchen wir ihn noch, den analogen, den realen Raum der Kunstbegegnung? Aber ja, meint Franziska Nori, und zwar dringend:
"Für mich ist wichtig, dass Öffentlichkeit sich tatsächlich auch in Räumen zwischen realen Körpern stattfindet und nicht nur in der Vereinzelung der Digitalität. Das ist eine Tendenz, die wir im Moment aus gesundheitsrelevanten Aspekten praktizieren, aber die möglichst schnell wieder zurück reguliert werden sollte zugunsten einer demokratischen Gesellschaft, die in der realen Begegnung stattfindet."
Allein im Museum, das wünscht man sich ja gelegentlich, aus dieser Idee hat Hollywood reißerische Filme gemacht. Kunst, so Franziska Nori, ist die Möglichkeit, sich mit einer Welt auseinanderzusetzen, die uns zunehmend entgleitet. So etwas wie Feldforschung auf unbekanntem Terrain. Aber dazu brauchen wir die reale Begegnung mit der Kunst an einem realen Ort mit realen Mitmenschen. Und noch eine weitere Lektion hält die aktuelle Lage für uns bereit.
"Vielleicht lernen wir, besonders wachsam und kritisch bleiben zu müssen. Denn in der Corona-Krisensituation und dem aktuell erstaunlich verbreiteten Wunsch nach klaren Anweisungen liegt eine große Gefahr darin, dass Verfassungsrecht und Grundrechte unterwandert und geschwächt werden, und zwar auf Dauer".