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Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart
Die Kunst des Zufalls

Der Zufall entzieht sich jeder Festlegung – und genau das hat Künstlerinnen und Künstler in den vergangenen hundert Jahren immer wieder fasziniert. Sie entwickelten Methoden und Verfahren, um Zufallsprozesse für ihre Werke zu nutzen. Eine Ausstellung in Stuttgart lädt zum Betrachten – und Ausprobieren ein.

Von Christian Gampert |
    Eine Frau steht im Kunstmuseum in Stuttgart (Baden-Württemberg) in der Ausstellung "un]erwartet" vor den Kunstwerken "20 zufällige Linien" und "40 zufällige Linien" (r) aus dem Jahr 1971 von Francois Morellet.
    Eine Frau steht im Kunstmuseum in Stuttgart in der Ausstellung "un]erwartet" vor zwei Kunstwerken. (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
    Bei manchen der gezeigten Werke kann man durchaus darüber streiten, ob sie überhaupt mit dem Zufall arbeiten. Die italienischen Wahrsager, die für den Künstler Christian Jankowski im Fernsehen die Karten legen und ihm weissagen, ob er dereinst im Kunstbetrieb Erfolg haben wird, geben doch recht voraussehbare Antworten. Aber sie deuten eben die angeblich zufällig gezogenen Spielkarten. Jankowski hat daraus eine hübsche, witzige Video-Installation gemacht, ein Höhepunkt der Ausstellung.
    Auch bei den Collagen der Dadaisten, die nach dem Horror des Ersten Weltkriegs ausgeschnittene Gliedmaßen, Rümpfe und Gesichter auf bizarre Weise zusammenfügten, kann man fragen: Ist das wirklich eine Zufalls-Komposition? Oder nicht doch bewusst gesteuerte Kreativität? Offenbar, so sagt es die Kuratorin Eva-Marina Froitzheim, tendiert das menschliche Gehirn sowieso dazu, überall Ordnungen zu stiften. Und alle, die subjektive Bild-Entscheidungen ausschließen wollen, müssen sich entweder unter Drogen setzen und dem Unbewussten überlassen – oder den bewusst herbeigeführten Zufall zu Hilfe nehmen.
    "Bei der Recherche war schnell klar, dass der zeitliche Beginn bei 1913/14 liegt, mit Hans Arp und Marcel Duchamp, und über die Zwanzigerjahre bis in die Gegenwart führt."
    Hans Arp ließ 1914 Papierfetzen auf den Boden segeln und fixierte sie dort – ein Werk des Zufalls, der Luftströmung oder auch: völlig objektivierte Kunst. Marcel Duchamp warf drei Meter lange Fäden zu Boden, die dort seltsamerweise sehr gerade liegen blieben und von Holzleisten zum Ur-Meter veredelt wurden. Zufall? Na ja. Max Ernst brachte durch Frottage und Grattage die Muster von Steinen und Baumrinden aufs Papier – aber folgt nicht auch das Organische einem nicht-zufälligen, sinnvollen Bauplan?
    Diese Kunst ist schön - oder auch nicht
    Also, die Sache ist schwierig. Wirklich ernst wird es in der Ausstellung erst mit der konkreten Kunst ab den 1960er-Jahren, als Peter Lacroix die Farbfolgen ganzer Werkserien erwürfelte und Francois Morellet zufällig ausgewählte Seiten des Pariser Telefonbuchs zur Basis seiner Bilder machte. Die sechsstelligen Telefonnummern wurden von ihm in ein Koordinatensystem übertragen und nach einem bestimmten Modus verbunden. Das Resultat sieht sehr mathematisch aus – aber, ketzerische Frage, ist es auch schön? Nicht unbedingt. Aber das ist ja gar nicht das Ziel dieser Kunst. Sie ist so schön, wie ein Stück von John Cage oder ein Gedicht von Eugen Gomringer schön ist– oder auch nicht. Es ist, wie es ist. Diese Kunst hat viel mit Naturwissenschaft, zum Teil auch mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun, sagt Eva-Marina Froitzheim.
    "Tatsächlich gibt es da einen interdisziplinären Ansatz. Und das hat sicher den Hintergrund, dass einige Künstler ursprünglich andere Berufe hatten. Gerhard von Grävenitz war Wirtschaftswissenschaftler, George Brecht war Chemiker, herman de vries, der heute mit seinen Naturarbeiten so berühmt geworden ist, kommt ursprünglich aus der biologischen Feldforschung."
    Und das heißt eben auch, dass viele Werke etwas Sprödes haben. Sie wirken wie mathematische Modelle, Computerdiagramme, molekulare Geheimpläne, und man muss sich da erst reinkämpfen. Manchmal, wenn man die Augen zukneift, sehen die "Statistische Verteilung" von K.O. Götz oder die flimmernden Würfel-Konstellationen von Manfred Mohr oder der Künstlergruppe Troika auch aus wie Op-Art. Aber die konstruktivistische "Hommage à Dürer" der Tschechin Vera Molnár hat nur bedingt etwas mit Dürers "Melancholia" zu tun - sie nimmt das magische Quadrat aus Dürers Kupferstich als Ausgangspunkt für eine mathematische Spielerei, die allerdings zu einer fadendünnen, großartigen Wandinstallation führt.
    Etwas zu essen gibt es auch: Bei Dieter Hackers interaktivem "Essbild" entstehen immer neue, zufällige Muster, indem die Museumsbesucher Schoko-Linsen aus einer quadratischen Rasterstruktur herausnehmen und verzehren. Wer darauf Lust hat und zufällig in Stuttgart ist, sollte im Kunstmuseum vorbeigehen. Es ist nicht ganz einfach, aber, wie der Croupier sagt, les jeux sont faits. In Stuttgart kann man eigentlich nur gewinnen.