"Das Erstaunliche ist, dass wir, 150 Jahre, nachdem wir unsere Wohnungen mit elektrischem Licht erleuchten, noch mit Kerzen umgehen. Nicht, um Helligkeit zu schaffen, wohl aber, weil wir uns wohler fühlen, bei Kerzen. Und manchmal, weil wir unsere Hilflosigkeit gar nicht anders ausdrücken können", sagt Helmut Friedel, Intendant des Museums Frieder Burda, während er durch die Ausstellung "Die Kerze" führt.
Die berührendste der 50 Arbeiten von 38 Künstlern ist ein Foto von Anja Niedringhaus. Ein deutscher Soldat hat sich während eines Patrouilleneinsatzes im September 2009 die Kerzen aus der Survival-Packung angezündet. Er sitzt da mit geschlossenen Augen und feiert so seinen 34. Geburtstag.
Konstruierte Gedenksituation in der Ausstellung
Mehr künstlerisch interpretiert hat Thomas Demand und, basierend auf dem Kerzenmeer nach der Loveparade-Katastrophe in Duisburg und stellvertretend für alle Unglücksfälle, eine universale und anonymisierte Gedenksituation konstruiert. Mehr künstlerisch interpretiert hat Thomas Demand. Basierend auf dem Kerzenmeer nach der Loveparade-Katastrophe in Duisburg und stellvertretend für alle Unglücksfälle konstruiert er eine universale und anonymisierte Gedenksituation. Es ist eine Szene aus und für das kollektive Gedächtnis. Helmut Friedel:
"Das Spannende ist, dass eine Kerze ein massiver Gegenstand ist, den man in die Hand nimmt. Die Flamme aber ein geistiger Gegenstand, der plötzlich lebendig ist und nicht mehr fassbar, der in einen anderen Bereich hinüberreicht."
Wahrscheinlich sind Kerzen, als Versuche dein Feuer "ewig" zu machen, so alt wie der Umgang des Menschen mit Feuer überhaupt, etwa 100.000 Jahre. So lange schon und bis heute macht die Kombination aus Wachs, Docht, und Flamme gefühlsduselig. Die Ausstellung beginnt ihre Chronologie indes 1965, mit einem Spiegel an der Wand plus Kerzenhalterung, von Walter de Maria.
"Wenn man sich davorstellt, sich betrachtet, dann entdeckt man plötzlich "Dear God - lieber Gott". Eine Morgenandacht an mich selbst."
Ein Altar fürs Ego also. Stellenweise wird es richtig skurril: So hat Andreas Slominski 2005 mithilfe von Schneekanonen eine Skilanglauf-Loipe vor die Londoner Serpentine Gallery gesetzt und absolvierte ein Rennen. Ziel des absurd aufwändigen Sport-Kunst-Events war, sich das Wachs von den Skiern zu kratzen und daraus eine Kerze zu formen.
Gerhard Richters "Kerze" als Initialzündung
"Ja, ja, der Kreislauf der Dinge!" Als animierte Fotostrecke zu sehen in der unteren von drei Etagen. Die Ausstellung ist mit Künstlernamen bestbesetzt. Immendorf, Baselitz, Penck im kuratierten Dialog mit Koons, Struth, Lüpertz und eben Gerhard Richter, dessen "Kerze" von 1982 Initialzündung und Herzstück dieser Schau ist. 29 Mal hat Richter die Kerze gemalt, sein berühmtestes Motiv. Erhellend ist, wie der Kunsthistoriker die, wirkliche, Qualität dieses ein mal einen Meter großen Gemäldes "Kerze" von Gerhard Richter erklärt:
"Die Kerze wächst hinein in den Raum. Da ist nur ein weißlicher Schaft. Es ist ein völlig abstraktes Bild . Nur durch die Flamme wird das zur Kerze, zum realistischen Gegenstand."
Man hat wirklich das Gefühl, als ob diese Kerze mit der Flamme im goldenen Schnitt den Ausstellungsraum heller macht: ein beeindruckendes Original. Zwei Versionen der Kerze sind auf das Plattencover von "Daydream Nation" der New Yorker Band Sonic Youth gelangt. Ein Ausstellungstück zur Richter-Rezeption in der Popkultur. Nicht um die Ecke gedacht, ergänzt Helmut Friedel, dass die Bandmitglieder, kurz hinter dem in den 80ern neu errichteten Trump Tower in Manhattan unterwegs zum Proberaum an den beiden Galerien des Künstlers vorbeikamen, ebenso von der Flamme fasziniert wie Besucher heute in Baden-Baden.
Trump Tower. Die Kerze als Phallussymbol. Auch diese Assoziation ist explizit verarbeitet, wenn man an einem überlebensgroßen Kerzenschaft auf Hirschgeweihen vorbeikommt, farblich irritierend in lila gehalten.
Über die "gefühlten" und politischen Aufladungen geht es in der absolut überzeugenden Schau weit hinaus. Auch handwerklich.
"Bei älterer Kunst war es das notwendige Beleuchtungsmittel. Das ist ja nicht das wesentliche Thema heute. Jetzt beschäftigen wir uns damit eher sinnlich und meditativ."
Manche Flamme, die in der Schau flackert, ist gar nicht echt. Während in andere Objekte, die digital animiert wirken, täglich eine echte, neue Kerze eingesetzt wird. Am tropfenden Wachs herumspielen und gedankenverloren in die Flamme schauen: das ist etwas Urmenschliches. Die Kerze ist Medium der Selbsterkenntnis. Sie bleibt in digitalen Zeiten erhalten, obwohl sie abbrennt oder obwohl sie nur als Bildschirmschoner-Video präsent ist.