Auf dem Plakat der Ausstellung ist es zu sehen: Das Gesicht einer jungen Frau, voller Tränen. Doch diese kullern nicht ihre Wangen hinunter, sie scheinen zu schweben, dem Gesicht vorgelagert. Ein überaus trauriges Gesicht, gleichzeitig aber ein Kunstprodukt.
"Glastränen" von Man Ray, entstanden 1932, zeigt, was die Fotografie schon damals konnte: Realität abbilden, diese aber im gleichen Atemzug auf ungewöhnliche Weise verändern, verfremden - auf den Kopf stellen, das Innere nach Außen kehren, ja sogar bis zur Unkenntlichkeit abstrahieren. Der aus den USA stammende Surrealist war in Paris einer der Pioniere der neuen Fotografie, der mit Techniken wie Solarisation, also eine Verfremdung des fotografischen Bildes durch starke Überbelichtung, die Möglichkeiten des Mediums erweiterte.
Als der Popmusiker Elton John 1990 sein erstes Foto kaufte, versuchte er gerade, mit einer Entziehungskur seinen Alkoholismus loszuwerden. "Ich vertauschte eine Sucht mit einer anderen", sagte er schmunzelnd in einem Interview. Inzwischen besitzt er mehr als 8.000 Fotos, alle von großer Seltenheit, denn er kauft nur vom Künstler selbst in der Dunkelkammer hergestellte Abzüge, die nicht länger als fünf Jahre nach der Aufnahme entstanden sein dürfen. Und er bewahrt sie nicht etwa in Schubladen oder Safes auf, sondern lebt mit ihnen: Sie hängen dicht an dicht an den Wänden seiner verschiedenen Wohnungen und Häuser.
Schwerpunkt auf den Zeitraum 1920 bis 1950
Die fast 200 Fotos der thematisch gehängten Schau in der Tate Modern stellen also nur einen Bruchteil der Sammlung dar und sie konzentrieren sich auf die Jahre zwischen 1920 und 1950, eine Zeit also, in der, wie es im Katalog heißt, "die Fotografie erwachsen wurde". Seit damals versuchte sie nicht mehr, es der Malerei und Skulptur gleichzutun, sondern ging ganz eigene Wege.
In einem einführenden Raum werden die Möglichkeiten des "Radical Eye", so der Titel der Ausstellung, also des Kameraobjektivs, gezeigt, von der dokumentarischen Darstellung von Realität bis hin zu abstrahierten Objekten. In dem Porträt gewidmeten Raum hängt unter anderem eine bemerkenswerte Gruppe von Porträts, die Man Ray von seinen Künstlerfreunden machte - Eric Satie, André Breton, Constantin Brancusi.
Der Amerikaner Irving Penn ordnete 1948 in seinem Studio zwei Stellwände in einem spitz zulaufenden Dreieck an und presste seine Modelle - den Schauspieler Spencer Tracey, den Boxer Joe Lewis, Salvator Dali - ganz in die Spitze des Dreiecks. Trotz ihrer physischen Einengung scheinen sich die Abgelichteten dem Betrachter gegenüber zu öffnen.
Die Sektion "Körper" zeigt die neue Darstellung des Akts, bis hin zur Abstraktion. "Bewegung" führt vor, dass das Objektiv wegen der immer kürzeren Verschlusszeiten Momente festhalten kann, die dem Auge entgehen, etwa Ilse Bings im Sprung erstarrter "Tänzer" von 1932. Und in der Sektion "Dokumente" hängt unter anderem Dorothea Langes berühmtes Foto einer in die Ferne starrenden Wanderarbeiterin. Daneben hängt eine weitere Arbeit der amerikanischen Dokumentaristin, das normalerweise als "Das beschädigte Mädchen" bekannt ist. Auf die Rückseite von Elton Johns Abzug kritzelte die Fotografin den wahren Titel, "Der Schaden wurde schon angerichtet".
Der einzige Wermutstropfen der Schau sind die Rahmen, die Elton John für seine wunderbaren Fotos gewählt hat, und die die Kuratoren übernahmen: Gold, Silber, viele verziert, verschnörkelt, fast so wie man Schinken aus dem 19. Jahrhundert rahmt. So theatralisch, wie der Popsänger selbst bei seinen Bühnenauftritten wirkt. Sie erdrücken die Fotos. Und die Delikatesten von ihnen werden buchstäblich von den Rahmen erschlagen. Man muss versuchen, sie wegzudenken, nur so kann man die Fotos wirklich genießen.
Ausstellungsinfos:
"The Radical Eye: Modernist Photography from the Sir Elton John Collection", Tate Modern, London, bis zum 7. Mai 2017
"The Radical Eye: Modernist Photography from the Sir Elton John Collection", Tate Modern, London, bis zum 7. Mai 2017