Es ist wie an Karneval: überall alte Bekannte – aber so gut verkleidet, dass sie kaum wiederzuerkennen sind. Die leuchtend bunten Skulpturen im Frankfurter Liebieghaus wirken einerseits vertraut, andererseits seltsam exotisch. Da ist zum Beispiel die "Kleine Herkulanerin", eine Frauenskulptur aus dem 2. Jahrhundert vor Christus. In der Ausstellung steht sie als farbig gefasste Reproduktion. Ihre Pose im klassischen Kontrapost, der perfekt arrangierte Faltenwurf ihres Gewandes – all das kennen wir von der antiken Skulptur. Aber die Farben: Sind ein Schock. Rosa und hellblau ist ihr Kleid, dazu ein türkisfarbener Mantel. Diese grelle Farbkombination würde man vielleicht in einem kitschigen Souvenirladen vermuten, aber doch nicht in der griechischen Antike.
Herantasten an die Wahrheit
"Wir alle sind ja geprägt durch die Ästhetik unserer Zeit und wollten das mit der Farbe auf dem schönen Marmor gar nicht wahrhaben. Der innere Widerstand ist bei uns im Team genau so groß wie bei den Besuchern der Ausstellung und bei den Kollegen im Fach. Und diese innere Auseinandersetzung zwischen Prägung und der Ahnung, dass da ja eine ganz andere Welt vorhanden war, ist das große aufregende Momentum in dieser Forschung."
Der Archäologe Vinzenz Brinkmann ist tief eingetaucht in diese andere, farbenfrohe Welt. Seit vielen Jahren untersucht er Farbreste auf antiken Skulpturen und Tempelanlagen und versucht, das ursprüngliche Aussehen von Figuren, Friesen, Kapitellen zu rekonstruieren. Die Ausstellung zeigt 60 Reproduktionen, die Brinkmann und sein Team in den letzten Jahren angefertigt haben. Es ist ein Langzeit-Experiment, ein aufwändiges und mühsames Herantasten an die Wahrheit. Bei vielen Farben und Ornamenten sind sich die Forscher mittlerweile sicher, bei anderen bleiben Zweifel. Die Reproduktionen – früher aus Gips, heute aus dem 3-D-Drucker – sind also immer nur Annäherungen.
Elegante Überhöhung
Recht neu – und in dieser Ausstellung erstmals gut sichtbar – ist die Erkenntnis, dass die Architekten und Bildhauer der Antike auch Gold verwendeten:
"Wir haben uns nach St. Petersburg begeben, in die Eremitage, dort liegen originale antike Stoffe. Und da haben wir gesehen, welche Rolle das Gold, vor allem die Goldpailletten spielen; und diese Erkenntnis haben wir übertragen in die Rekonstruktion. Wir finden das Ergebnis toll, denn das nochmal über die Farbe gelegte Muster von Goldverzierungen gibt den Statuen eine zusätzliche Dimension: eine richtige elegante, wertvolle Überhöhung."
Es ist frappierend, wie sehr die Farben Ausdruck und Anmutung einer Skulptur verändern. Während der römische Kaiser Caligula im marmorfarbenen Original unnahbar und emotionslos wirkt – erscheint er in der farbigen Kopie überraschend menschlich – viel greifbarer und gar nicht mehr so kaiserlich. Die Farben ermöglichen also ganz neue Deutungen – oder helfen dabei, die Figuren überhaupt erst zu identifizieren.
Wieso also beginnen wir erst jetzt mit dieser Arbeit? Warum sind die meisten antiken Skulpturen in unseren Museen immer noch weiß? Auch das erklärt die Frankfurter Ausstellung; mehrere Säle widmen sich der Geschichte der Polychromie-Forschung. Und siehe da: So jung ist sie gar nicht. Schon im 19. Jahrhundert war hinlänglich bekannt, dass die Antike ein farbenfroher Ort war – nur geriet das im 20. Jahrhundert wieder in Vergessenheit.
Faschismus und Antike
Oder wurde absichtlich vergessen gemacht? Womöglich hatte der europäische Faschismus ja gar kein Interesse an einer bunten Antike – an Skulpturen, deren Haut eben nicht marmorweiß, sondern, je nach Herkunft der Dargestellten, auch mal dunkel war? Die Frage steht als vorsichtige These im Raum. Sie klingt plausibel, zumal die Farbigkeit der Antike auch heute in den USA wieder heftig diskutiert wird.
"Das wird jetzt verbunden mit der Diskussion der Diversity, mit der Diskussion der White Supremacy. Offensichtlich kann man eine Verbindung etablieren zwischen der Tatsache, dass man an diesem Weiß festhält und dass man gleichzeitig denkt, dass die weiße Rasse der Welt mehr zu bieten hat, als die Welt der weißen Rasse."
Es geht hier also um weit mehr als nur um ein paar Farben und Ornamente. Es geht um das große Ganze – um Wurzeln, Herkunft und Identität. Die "Bunten Götter" im Frankfurter Liebieghaus haben das Potenzial, Weltbilder ins Wanken zu bringen. Mehr kann eine Ausstellung nicht leisten.