"Das soll also anspruchsvolle Kunst sein!", sagt ein Mann aus einem Mob im Video der New Yorker Künstlerin Signe Pierce spöttisch. Man sieht einen figurbetont gekleideten Frauenkörper in hohen Schuhen über eine Promenade in einem Urlaubsort in South Carolina stolzieren. Das Gesicht verborgen hinter einer spiegelnden Maske. Der aufreizende Auftritt und die verborgene Identität reichen den Menschen auf der Straße, um Performancekünstlerin Signe Pierce zu demütigen. Sie pöbeln, bespucken sie, versuchen im Vorbeigehen, ihre Genitalien zu greifen. Pierce will den intoleranten Klischee-Amerikaner in ihrer Gesichtsmaske und in ihrem Video widerspiegeln, erklärt sie.
"Das fand ich so wunderbar an der Reflexion in der Spiegelmaske, dass sie Folgendes gut illustriert hat: Was passiert, wenn man diesen idealisierten Typ Frau, den man aus Pornos und den Medien kennt, wenn man diese Frau einfach mitten auf die Straße erscheinen lässt? Ihr wird Menschlichkeit abgesprochen! Die Menschen sehen sie nicht mehr als Mensch."
Die Frau als Objekt der weißen, heteronormativen Männerwelt ist ihr Thema. Eine Frau soll einem Schönheitsideal entsprechen, ob in Pornos, Fernsehshows oder auch bei Instagram. Schlank, weiß, sexy, langes Haar. Mit diesem Rollenklischee spielt Pierce in ihrer improvisierten Performance. Das Video "American Reflexxx" von 2013 haben mehr als 1,6 Millionen Menschen auf YouTube gesehen. Jetzt wird es überlebensgroß auf einer Wand im Leipziger Museum für bildende Künste projiziert. Signe Pierce ist Ende 20, kommt aus New York und ist Teil einer Künstlerinnenbewegung im Internet.
So wie Stephanie Sarley. Auch ihre Bilder und Videos haben im Internet längst die Runde gemacht. Inspiriert durch sogenanntes Food Porn, den millionenfach verbreiteten Fotos von schmackhaft erscheinendem Essen im Internet, erfand sie ein neues Genre: Fruit Porn.
"Das ist schon sehr sexuell anzüglich", sagt Kuratorin Anika Meier. "Sie fingert da so ein bisschen diese Früchte. Es geht um weibliche Sexualität. Und das Interessante ist, dass da wahnsinnig stark darauf reagiert wird. Sie hat total viel Hass dafür abbekommen, was man sich ja gar nicht vorstellen kann. Es sind Früchte."
Weibliche Sexualität als Tabu
Früchte als sexualisierte Symbole in der Kunst sind keine Erfindung von Sarley. Das steht in einer jahrhundertelangen Tradition. Aber weibliche Sexualität, Lust und Masturbation offen zu zeigen, ist noch immer für viele ein Tabu und offensichtlich schwer zu ertragen. Für Meier und ihre Co-Kuratorin Sabrina Steinek ist es wichtig, dass die Ausstellung nicht unter dem Stichwort "Feminismus" gefasst wird. Es geht um Themen, die die 20- bis 30-jährigen weiblichen Künstlerinnen beschäftigen, die mit und im Internet aufgewachsen sind. In der Ausstellung zu sehen sind zwölf ganz unterschiedliche Projekte:
"Wir haben versucht, möglichst viele Themengebiete abzudecken, so dass es beispielsweise nicht ausschließlich um Schönheitsideale geht, sondern auch um Themen wie Sex-Positiv oder weibliche Sexualität. Es wird auch ein bisschen politischer, wie bei Nakeya Brown. Wir zeigen außerdem verschiedene Medien. Video, wir haben ein Virtual-Reality-Game dabei und viel Fotografie."
Außerdem zwei Rauminstallationen, in denen der Besucher selbst zum Teil der Kunst wird. Wer den Raum betritt, wird von einer Kamera eingefangen und an eine Art Schlafzimmerwand projiziert. Man muss etwas Experimentierfreude mitbringen beim Ausstellungsbesuch. Wo im Museum der bildenden Künste bis vor wenigen Monaten noch jahrelang eine großformatige Malerei des Leipziger Künstlers Neo Rauch hing, sieht man jetzt ein Video, in dem die Finger einer Frau scheinbar eine Orange befriedigen. Vor allem weniger netzaffine Museumsbesucher werden hier herausgefordert, indem sie mit ungewohnt provokativen Darstellungen von Sexualität konfrontiert werden, aber sie werden damit nicht allein gelassen, sagt Anika Meier.
"Wir geben schon eine Einführung oder erzählen immer, worum es geht, was da passiert, was die Idee ist. Da muss man sehen, wie das normale Publikum darauf reagiert, das sonst eher historische Arbeiten erwartet. Vielleicht kriegen die einen Schreck."
Zu den großen Meistern der Kunst gesellen sich jetzt Netzvideos
Am Eröffnungsabend lockte die Ausstellung eine Masse junger Leute ins Leipziger Museum. Warum die Bilder aus Instagram ausgedruckt ins Museum gehängt werden müssen, fragen sich manche. Doch die Kunstwelt hat sich über das Netz erweitert. Zu den großen Meistern der Kunst gesellen sich jetzt neue Formen, sagt die New Yorker Künstlerin Pierce, auch mit Hilfe von Smartphones.
"Da halte ich eine komplett neue Welt in den Fingern, die in diesem Tempel noch gar nicht gezeigt wird. Und damit schreiben wir jetzt Geschichte. Wir zeigen, wie man sich über die neuen Medien ausdrücken kann. Es ist noch längst nicht alles gezeigt worden, denn die Werkzeuge, die wir für unsere Kunst benutzen, gab es vor fünf Jahren noch gar nicht."
Kunst und Aktivismus sind außerdem enger zusammen gerückt. Das zeigen internationale Bewegungen, wie die aktuelle #MeToo-Debatte, die auch durch junge Künstlerinnen, die sich öffentlich gegen Rollenklischees positionieren, unterstützt wird. Die Ausstellung "Virtual Normality" reiht sich in diese Debatte ein und zeigt auf, wie junge Frauen und Männer geltende Normen infrage stellen. Das wird besonders dem klassischen Museumsgänger neue Perspektiven eröffnen.
Die Ausstellung "Virtual Normality" ist noch bis zum 8. April 2018 im Leipziger Museum der bildenden Künste zu sehen.