Hermann Nitsch hat als Dichter angefangen. Als die Worte nicht mehr genügten, hat er Bilder gemalt. Als die Farbe nicht mehr genügte, hat er die Farbe durch Blut ersetzt. Als die Leinwand nicht mehr genügte, ist er ins Dreidimensionale gegangen, in die Aktion, die Performance, das Theater. Oft haben diese Inszenierungen im öffentlichen Raum stattgefunden, manchmal in Ateliers, bisweilen, ziemlich spät, hat Nitsch dann auch im subventionierten Theaterbetrieb gearbeitet und ihm sein Konzept des Ritualhaften aufgezwungen. In der feinen Münchner "Villa Stuck" ist zum Beispiel im Film zu sehen, wie Nitsch 2005 das noch feinere Burgtheater mit Blut besudelt, wie er die Empfangs-Treppe, wo sonst hoher Besuch, Politiker und Staatsgäste zur Kunst emporschreiten, zum Ort des Animalischen macht - und wie ein Galgen mit einem Tierkadaver prozessionsartig um das makellos helle Gebäude herumgetragen wird. Die Menschen in der vorbeifahrenden Straßenbahn schauen empört und verschreckt auf diesen Spuk.
Im Foyer der Villa Stuck sitzt ein alter Mann, ganz in Schwarz, mit Krücke, voluminösem Bauch und weißem Patriarchenbart. Hermann Nitsch wirkt wie ein Priester, ein imposanter Wiener Pope, das geistliche Oberhaupt des Orgien-Mysterien-Theaters. Der Mann ist durchaus kampflustig, kann aber auch sehr freundlich sein, etwa wenn er über den Wein spricht oder sein der katholischen Kirche abgekauftes Domizil Schloss Prinzendorf, sein Bayreuth, wo er 1998 mit sehr vielen Jüngern und Jüngerinnen das in die völlige Erschöpfung führende "Sechs-Tage-Spiel" aufführte, ein kathartisches Großereignis, ein Blutbad mit Panzern und zerstampften Gedärmen, aus dem die Teilnehmer offenbar gestählt und erneuert hervorgingen.
Die Presse sei ihm egal, sagt Nitsch - was nicht ganz stimmt, denn sein Assistent bringt ihm gerade einen ganzen Stapel Zeitungen mit den Kritiken, die Vernissage war am Abend zuvor. Die Besprechungen sind freundlich. Denn in der Tat hat der aus der k.u.k.-Metropole mitgereiste Kurator Hubert Klocker eine Ausstellung inszeniert, die Entwicklungsstufen und Größenwahn des Wiener Aktionismus quasi unter ein Mikroskop legt und anhand des Protagonisten Nitsch erzählt, wie das Theatralische und Kreatürliche Einzug in den Kunstbetrieb hielt. Nitsch schrieb zunächst manisch auf, was ihn seit den späten 1950er-Jahren bewegte: dass die Kunst heraus müsse aus der Abbildung, hin zum körperlichen Erleben. Die eng beschriebenen Hefte liegen unter Vitrinen aus; Nietzsche, de Sade, Jungs Archetypen spielen eine Rolle. Zu Beginn sieht man auch die ersten, noch dem abstrakten Expressionismus verpflichteten Schüttbilder, irgendwann wird mit Blut gearbeitet. Die Ausstellung geht dann ziemlich schnell weiter zu den Aktionen, die auf mehreren nebeneinandergestellten Großleinwänden gezeigt werden, sodass man zeitsparend und simultan vergleichend sehen kann, wie viehisch und schmutzig die heiligen Messen des Hermann Nitsch seit den 1960er-Jahren in Wien, Bologna, München und anderswo zelebriert wurden.
Es gehe um den Kosmos, sagt der Meister, um die Überwindung des Tragischen und des Todes durch körperliches Erleben der Existenz. Es gibt eine Abteilung mit Kostümen und Videos der Opern-Inszenierungen, eine Extra-Kammer zeigt die Folterwerkzeuge und Tabernakel des Orgien-Mysterien-Theaters, grafische Arbeiten ziehen sich durch die ganze Ausstellung, minutiös notierte Partituren der öffentlichen Aktionen liegen vor uns, statisch verharrende, mit immer weiter aufgeschichteten Tönen den einzigen Akkord erweiternde Klangwolken wallen auf, eine Ganzraum-Video-Animation feiert das Spiel der Farben, nur die olfaktorische Dimension – Blut stinkt - bleibt dem Ausstellungs-Besucher erspart.
Man muss das Stampfen der Nitsch-Jünger auf Eingeweiden, Tomaten und Weintrauben nicht mögen, das in Prinzendorf und im Burgtheater stattfand. Man muss auch die öffentliche Kopulation nicht für der Weisheit letzten Schluss halten – als Nitsch in den späten 60er-Jahren das auf einem Kruzifix sich spreizende Model Hannel Koeck in München öffentlich begattete, Titel "Mariae Empfängnis", holte die Stadtverwaltung die Polizei. Aber: In dieser großartigen Ausstellung ist das alles so nah und gleichzeitig so fern, dass man sieht, wie zeitbedingt das ist: das Streben nach permanenter Grenzüberschreitung und Provokation, das sich als Streben nach der Ewigkeit ausgibt.