An den kalten Wandkacheln verhallen die Stimmen. Graue Bodenfliesen, schummrige Beleuchtung. Die Fußgängerunterführung "MaximiliansForum" in München: ein Fuchsbau der urbanen Kunst, direkt unter der Luxusmeile. Hier im Untergrund: Der soziale Abstieg als Kunstaktion, Endstation Obdachlosigkeit.
"Aktuell sind etwa 6.000 Wohnungslose in München. Man muss da differenzieren zwischen Leuten, die auf der Straße leben, das sind etwa 500, und 5.500 sind in Projekten untergebracht, in Wohnungslosenprojekten", sagt Lars Mentrup, der sich selbst als Gesellschaftsaktivist bezeichnet. Zusammen mit dem Künstler und Sozialarbeiter Paul Huf startet er hier im MaximiliansForum das Kunstprojekt Infra_Beuys - eine Veranstaltungsreihe über Obdachlosigkeit, Depression und Bürokratie.
"Heute Abend gebe ich mein Handy, mein Geld, meine Wertsachen ab. Und dann versuche ich, mit Schlafsack und Isomatte rauszugehen und zu überleben - drei Tag und drei Nächte."
Abwärtsspirale der Gesellschaft
Obdachlosigkeit zwischen Selbsterfahrungs-Trip und Kunstaktion. Vor vierzig Jahren hat Joseph Beuys in dieser Unterführung seine Installation "Zeige deine Wunde" ausgestellt: Leichenbahren und Alltagsutensilien paarweise angeordnet als Sinnbild der Dualität von Leben und Sterben, Individuum und Gesellschaft, Gegenwart und Vergangenheit.
"Das war ja kurz nach dem Wirtschaftswunder: Alles ist möglich, Atomkraft, es geht voran, der Westen wird gegen den Osten siegen, Produktivität ist gestiegen, noch und nöcher. Und wir befinden uns jetzt ja eigentlich in der Phase, wo gesagt wird: Wir können das Sozialsystem in der Form gar nicht mehr erhalten."
Lars Mentrup und Paul Huf möchten nun die Bevölkerung sensibilisieren: Die Abwärtsspirale der Gesellschaft, das Dilemma des sozialen Abstiegs. Und vor allem: Aufräumen mit Vorurteilen. Im MaximiliansForum haben die Künstler an diesen Abend einen Stuhlkreis aufgestellt. Die Sitze sind durchnummeriert: weiße Kreide auf schwarzem Steinboden, eins bis 36. In der Mitte ein Holz-Podest mit einem Spiel-Roulette. Es kann jeden treffen.
Etwa zwei Dutzend Interessierte sind gekommen: Künstler, Medienleute, auch Obdachlose. Zwei von ihnen erzählen von ihren Erfahrungen auf der Straße, geben Tipps und tiefe Einblicke in ihr Leben ohne Zuhause.
Wenn es wehtut, kneift die Weltstadt
Uwe Müller hat sieben Jahre auf der Straße gelebt und hat an diesem Abend von seinen Erfahrungen berichtet. Obdachlosigkeit als Kunstaktion sieht er nicht übermäßig kritisch: "Drei Tage sind natürlich von der wirklichen Realität einer Langzeitobdachlosen weit entfernt. Aber man muss sich da auch irgendwie rantasten. Insofern finde ich das in Ordnung."
Gleich ziehen die Künstler selbst alleine für drei Tage und Nächte durch das herbstkalte München. Wenn es weht tut, kneift die Weltstadt mit Herz. Tausende Einladungen haben die Künstler verschickt, mitkommen wollte letztlich niemand, bis auf einen befreundeten Künstler.
Lars Mentrup: "Der hat einen ganz persönlichen Hintergrund. Dessen Vater hat die Familie verlassen als er selber acht Jahre alt war und ist obdachlos geworden."
Autor: "Ist er schon da?"
Lars Mentrup: "Ja, der ist gerade gekommen. Mit dem Rucksack."
Uli Oesterle heißt er. 50 Jahre alt. Das Schicksal seines Vaters verarbeitet er gerade in einer Graphic Novel. "Da geht es eigentlich um eine Vater-Sohn-Beziehung, zwischen meinem Vater und mir, der uns ja sehr früh verlassen hat und dann eigentlich 30 Jahre verschwunden war bis die Nachricht von seinem Tod kam."
Gegen 22:00 Uhr ziehen sie durch die Münchner Nacht: Drei Künstler ohne Telefon, ohne Geld und Wohnungsschlüssel, begleitet von Dokumentarfilmern. Der Film, der entsteht, soll das Kunstprojekt für andere erfahrbar machen.
"Ich konnte kaum schlafen"
Herbstluft und Nieselregen. Für den nächsten Tag verabreden wir uns in einem Park hinter dem Rathaus.
Autor: "Drei obdachlose Künstler. Hallo. Wie geht es euch, was ist passiert diese Nacht? Wo habt ihr dann geschlafen?"
Lars Mentrup: "Nördlich von der Neuen Pinakothek, da gibt es so Arkaden mit Einbuchtungen, wo man relativ geschützt liegen kann. Aber im Gegensatz zu meinem Kollegen Huf hier, habe ich ganz schlecht geschlafen, weil die Sinne sind so geschärft: Jedes Geräusch hört man, ob nicht Gefahr droht. Zumindest bei mir. Sodass ich eigentlich kaum schlafen konnte."
Uli Oesterle: "Mir ging es da ähnlich. Ich habe glaub ich immer so einen Sekundenschlaf gehabt. Und hab gemerkt: Ah, jetzt werde ich müde und dann kam ein Geräusch und dann war ich wieder wach."
Paul Huf: "Und etwas Geruchsintensiv."
Es mag verharmlosend wirken, wenn drei Künstler Obdachlosigkeit inszenieren. Doch gerade im extrem teuren München sind die Gegensätze schmerzhaft offensichtlich: Das Zur-Schau-Tragen des Wohlstands trifft hier auf versteckte Armut, die Mieten steigen, der Leistungsdruck der Gesellschaft auch. Wer nicht standhält, der fällt. Statistisch ist jeder 250ste wohnungslos. Die Wunde klafft, das Kunstprojekt Infra_Beuys wird sie nicht heilen, macht sie aber sichtbar.