Man muss sich als Betrachter ein bisschen herunterbeugen und die richtige Position finden, dann taucht aus der polierten Oberfläche der kleinen Silberplatte schemenhaft das Porträt Alexander von Humboldts auf. Er ließ sich 1847 in Hamburg von Hermann Biow ablichten - mit dem neuen Verfahren der Daguerrotypie, wie auch Kaiser Wilhelm IV. und Franz Liszt: in kleinem Format, postkartengroß.
Solche Bilder waren erstmal ein Schock, ein Wunder. Die Wiener Satirezeitschrift veröffentlichte Karikaturen, in denen die Massen ins Fotoatelier strömen, und fragte: "Wer wird künftig malen, wenn das Daguerreotyp alle Bilder der Welt heißhungrig verschlingt?" Gegen die wandfüllenden Gemälde, die in Karlsruhe den kleinen Fotos gegenüber hängen, hatten die frühen Fotos keine Chance. Den kleinen Gedächtnisbildern, den medaillongefassten Aquarellen von Liebenden aber machten die Fotografen Konkurrenz; sie waren Maler mit anderen Mitteln. Leonie Beiersdorf hat die Ausstellung "Licht und Leinwand" kuratiert:
"Die Fotografie wurde sehr stark von der Malerei beeinflusst, insofern, als viele der frühen Fotografen als Maler ausgebildet worden sind und das was sie gelernt haben in Sachen Bildkomposition, Motivauswahl, Dramaturgie im Bild übertragen haben auf ihre fotografischen Werke."
Schneller als die Malerei
Die neue Technik diente zunächst dazu, Malerei zu ersetzen oder auch ihr zuzuarbeiten, denn trotz des enormen technischen Aufwands der frühen fotografischen Verfahren: Schneller als die Malerei ist sie allemal. Was früher mühsam in Skizzen für Landschafts- oder Architekturmalerei festgehalten werden musste, das konnten die Maler nun auf Fotos sehen, die exakter waren als jede Zeichnung. In der Kunsthalle Karlsruhe sind solche Ansichten aus fernen Länder zu sehen, die nicht nur Malern, sondern auch Daheimgebliebenen die Welt ins Wohnzimmer holen sollten. Auch die frühe Industrie profitiert. Sie kann ihre Stoffmuster nun nach Fotografien auf Druckplatten belichten. Und der Jugendstil findet in der mikroskopischen Fotografie der Jahrhundertwende ein reiches Formenvokabular aus Stengeln, Insektenflügeln und Zellengeweben. Die Ausstellung zeigt aber nicht nur waghalsige Experimente der Fotografie, sondern auch solche der Malerei:
"Die Ausstellung möchte betonen, dass in der Malerei bereits ganz viele Prinzipien sichtbar wurden, die wir heute der Fotografie zuschreiben würden, bevor die Fotografie erfunden wurde. Etwa ein ganz radikaler Bildausschnitt oder ein ganz naher Fokus. Das zeigt sich bei uns in den Ölstudien Johann Wilhelm Schirmers an der normannischen Küste, die also ganz illusionistisch sind und uns damit überraschen, dass sie von 1836 sind - also noch bevor die Fotografie erfunden wurde."
Der Himmel wurde montiert
Tatsächlich kommen einem diese Studien auch wegen ihrer feinen Details vor wie Fotos aus dem 20. Jahrhundert: Die Bildauschnitte wirken, als habe da jemand sein Objektiv einfach draufgehalten ohne lange zu komponieren. Nichts ist zu sehen als das tiefgründig-grüne Meer mit schimmernd-silbrigen Reflexen. Aber eben Malerei. Die Fotografie müht sich im 19. Jahrhundert noch mit den Belichtungszeiten und ist das statischere Verfahren. Wellenbewegungen kann sie nur schwer abbilden, und den Himmel müssen Fotografen stets einzeln belichten und ins Bild montieren: Er wird sonst viel zu hell. Aber sie entwickeln Druckverfahren für farbige Bilder, um der Malerei näher zu kommen. In Karlsruhe sind solche Gummidrucke neben hochkarätigen Impressionisten wie Claude Monet und Camille Pissaro zu sehen. Auch Max Liebermann, Lovis Corinth und Franz Lenbach sind in der Ausstellung vertreten. Die Namen der Fotografen kennt heute kaum jemand. Es sollte noch lange dauern, bis ihre Arbeit als eigenständige Kunst anerkannt wurde. Leonie Beiersdorf:
"Ich glaube, dass wir mit dem heutigen Maßstab den Kunstwert der frühen Daguerrotypien durchaus sehen: In der Diskussion der 1860er-Jahre werden ganz viele Stimmen laut, die der Malerei zu einem eigenständigen Kunstwert verhelfen wollen. Aber tatsächlich findet diese Anerkennung erst um 1900 statt, als auch Institutionen wie Museen aufmerksam werden und eigene Fotoausstellungen zeigen."
In Karlsruhe kann man nun die ersten Schritte auf diesem Weg sehen. Darüber hinaus lernt man aber auch, wie sehr sich die Kriterien dafür ändern, was als Kunst akzeptiert wird und was nicht. Beides ist unbedingt lohnend.