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Ausstellung "Time is Thirsty"
Der Duft der 90er-Jahre

Das Ende des Kalten Krieges, Techno, Sportswear als High Fashion, erstes Internet: Die 90er-Jahre sind Thema der Ausstellung „Time is Thirsty“ in der Kunsthalle Wien. Es soll eine Schau sein, "in die man eintauchen kann", sagte Kurator Luca Lo Pinto im Dlf. "Etwas, worin man sich verliert."

Bernd Lechler im Corsogespräch mit Luca Lo Pinto |
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Mode der 90er-Jahre in der Ausstellung "Time is Thirsty" (Jorit Aust)
Bernd Lechler: "Time is Thirsty" ist laut Pressetext "eine raumgreifende Installation aus Kunst, Sprache, Duft und Sound, Artefakten und Alltagsobjekten, in der die Zeitachsen sich verschieben." Was genau bedeutet das?
Luca Lo Pinto: Es ist nicht wirklich eine Ausstellung über die 90er-Jahre; sie versucht eher, zwei Momente der Zeitgeschichte zu synchronisieren. Stellen Sie sich 1992 - oder die frühen 90er - und die Jetztzeit vor wie zwei Musik-Tracks, die man wie ein DJ auf dieselbe Geschwindigkeit, dieselben Beats per Minute bringt, um eine neue Temporalität zu erzeugen. Es hat viel mit dem zu tun, was der britische Poptheoretiker Simon Reynolds "Dischronie" nennt - dieses seltsame Gefühl, wenn man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kaum auseinanderhalten kann.
Sich verlieren statt Didaktik
In den vergangen vier Jahren wurden die 90er vor allem in der Mode und in der Musikproduktion gefeiert und kommerzialisiert. In der bildenden Kunst ist es nicht so auffällig, deswegen fand ich es interessant, diese Ära genauer zu betrachten - weil es da eben eine große Resonanz mit der Gegenwart gibt. Aber ich wollte es nicht auf eine didaktische Art tun und auch nicht einfach Dinge aus den 90ern und von heute einander gegenüberstellen. Ich wollte mit dem Medium Ausstellung spielen - und eine Schau kreieren, in die man eintauchen kann. Etwas, worin man sich verliert, was man sonst eher in einem Club erlebt, oder vielleicht im Kino - in einer Black Box, nicht in einem weißen Ausstellungsraum.
Lechler: Ich fand interessant, dass Sie innerhalb Ihrer Ausstellung ein Projekt aus den frühen 90ern wiederbelebt haben, nämlich die "Tattoo Collection", die man damals in Paris, Köln und New York sehen konnte. Hunderte von Künstlern hatten da Entwürfe für Tattoos gemacht, die die Besucher auch tatsächlich "erwerben" und sich stechen lassen konnten. Heutzutage sind Tattoos viel mehr Mainstream als damals, oder?
Tattoos waren mal eine Form des Widerstands
Lo Pinto: Natürlich. Tattoos bedeuteten Anfang der 90er - und auch bei diesem Projekt und in den Originalentwürfen der Künstler dafür -, dass man seinen eigenen Körper, seinen ganz persönlichen Raum für ein Statement nutzte. Man positionierte sich gegenüber der Gesellschaft, es war eine Form des Widerstands oder der Kritik. Heute verweisen Tattoos auf die Kommerzialisierung des Körpers.
Für mich war diese Ausstellung auch deshalb wichtig, weil sie die Regeln brach. Ich bat zehn Menschen, die ich nicht kannte, sich aus dem Archiv Tattoos auszusuchen. Sie haben die Künstler und die Motive gewählt, nicht ich. Und die Tattoos sind jetzt nur auf ihren Körpern zu sehen - nicht in der Ausstellung. Sie existieren, was den Raum betrifft, nicht im Museum in Wien, sondern auf diesen Körpern. Und was die Zeit betrifft, so halten diese Tattoos ein Leben lang, nicht nur die drei Monate einer Ausstellung. Indem wir diese Aktion reaktiviert haben, konnten wir also auch über die Bedingungen einer Ausstellung nachdenken - und die üblichen Grenzen sprengen.
Lechler: Die norwegische Künstlerin und Duftspezialistin Sissel Tolaas hat den Geruch von Wien im Jahr 1992 rekonstruiert. Wonach roch es denn?
Duftmoleküle, die an den Besuchern hängenbleiben
Lo Pinto: Sissel fängt permanent Gerüche ein: von Gegenständen, von Städten - Sie besitzt also ein stetig wachsendes Archiv von Gerüchen. Immer wenn sie welche "aufgenommen" hat mit ihrem speziellen Gerät, schickt sie diese Proben ins Labor einer große Firma, die den Duft wiederum mit anderen Geräten in seine molekularen Bestandteile zerlegt. Aus diesen Molekülen konstruiert Sissel den Geruch. Und man kann ja in einer Ausstellung beschließen, ein Gemälde nicht anzuschauen - aber Gerüchen oder Klängen entkommt man nicht. Es ist also eine ziemlich physische Angelegenheit. Und: wenn man die Ausstellung verlässt, hat man die Moleküle immer noch eine Weile am Körper.
Lechler: Wenn ich an die 90er denke, dann kommen sie mir im Vergleich zu heute optimistisch und unschuldig vor. Die Berliner Mauer war gefallen, der Kalte Krieg zu Ende, das Internet war neu, wir hatten noch keine Sorgen wegen Hatespeach und dergleichen… Zeigt sich dieser Optimismus in Ihrer Ausstellung auch?
Isolation, Angst, Neurosen im Spätkapitalismus
Lo Pinto: Optimistisch finde ich die Ausstellung nicht. Eigentlich eher das Gegenteil. Heutzutage wollen wir alle immer noch produktiver sein, man nimmt Ritalin, es haben pharmazeutische Drogen, die klassische Drogen fast ersetzt; die Zeiten sind düster. Der Spätkapitalismus hat Isolation, Angst und Neurosen hervorgebracht. Von daher sehe ich wenig Grund zum Optimismus, es ist alles eher dunkel und bedrückend. Vor allem, weil einen die Musik, die wir einsetzen, in eine andere Dimension trägt, da reagiert man auch körperlich. Mir war wichtig, diese Angst spürbar zu machen, auch ganz persönlich, weil ich sie selbst so empfinde und weil ich glaube, wir alle kennen dieses Gefühl der Verdrängung und Entfremdung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.