Autorin: "Hier steht auf dem Boden: Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist."
"Wir empfangen hier die Besucherinnen und Besucher hier mit den unterschiedlichsten Redeweisen und Sprichworten, die sie aus ihren eigenen Sprachen und eigenen Kulturkreisen kennen. Wir wollen ohnehin mit dem ersten Kapitel in der Ausstellung eine Begegnung schaffen mit Dingen, die ihnen mehr oder weniger auch aus dem eigenen Alltag bekannt sind," sagt der Kurator der Ausstellung, der Kunsthistoriker Prof. Kurt Wettengl.
Ein Radiorekorder Baujahr 1970, ein Flugdatenschreiber, eine riesige Magnetplatte, die einmal als das modernste Speichermedium überhaupt galt, ein Bild mit Haaren eines Verstorbenen aus dem Jahr 1868.
"Dann haben wir ganz einfache Sachen wie Einkaufszettel. Einkaufszettel, die jetzt für den Moment dienen, die dann aber nach Erledigung der Einkäufe einfach weggeworfen werden in der Regel. Es gibt aber auch Menschen, die heben die dann auf, sammeln sie und so haben wir ein paar in dieser Ausstellung auch zeigen können."
Erinnern - oder lieber vergessen
Faszinierend zu sehen, welche Strategien und Medien Menschen erfinden, um nicht zu vergessen - die ersten Vitrinen und Installationen der Frankfurter Ausstellung sind voll davon. Aber es gibt bereits hier Hinweise auf eine Epoche, die manch einer lieber ganz schnell vergessen hätte:
"In dieser Vitrine hier sieht man auch ein Merkblatt, das die Befreiten des Konzentrationslagers Buchenwald nach dem Zweiten Weltkrieg anfertigten, um denjenigen, die nach dem Krieg dieses Lager besichtigen mussten, dann bestimmte Dinge mitzugeben, die sie in Erinnerung behalten sollten."
"Wir können unterscheiden zwischen einem Vergessen, bei dem eine Art von Verdrängungsvorgang stattfindet, das ist natürlich das, was man mit psychoanalytischem Vergessen vor allem verbindet, das man sagt, bestimmte Inhalten sollen nicht ins Bewusstsein gelangen und sie müssen aus dem Grund entsprechend im Dunkeln gehalten werden und dann ist das Vergessen ein Teil des Verdrängens," sagt Professorin Vera King, Direktorin des Siegmund-Freud-Instituts Frankfurt. Sie war eine der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Entstehung der Ausstellung im Historischen Museum begleiteten.
"Es gibt ja auch Formen des Vergessens von Gefühlen, das heißt, man erinnert sich an bestimmte Ereignisse, verbindet sie aber nicht mehr mit dem Gefühl, zum Beispiel bei Traumatisierung kann das eine Rolle spielen."
Man vergisst 99 Prozent
Und dann gibt es das ganz "normale" Vergessen von alltäglichen Vorgängen und Dingen, das jeder von uns kennt.
"Natürlich gibt es dieses Bedauern, je älter man wird, dass es vieles gibt, das man vergisst. Aber es ist eben ein ganz normaler Bestandteil des menschlichen Seins und des alltäglichen Vollzugs und des In-der-Welt-seins, dass wir uns in diesem Spannungsfeld bewegen und es ist ein ganz grundlegender, notwendiger Aspekt von Bewusstsein und auch von Fühlen, dass wir Dinge mal erinnern und mal auch wieder vergessen können."
"Wahrscheinlich vergisst man 99 Prozent und erinnert dieses eine Prozent," sagt Astrid Erll, Professorin für Anglophone Literaturen und Kulturen an der Goethe Universität und Mit-Initiatorin des interdisziplinären Projekts "Frankfurt Memory Studies Platform".
"Wir erinnern uns gerne an all das, was in unser Selbstbild passt. Und zwar das Selbstbild, wie es heute ist. Wenn ich heute eine umweltbewusste, mich gesund ernährende Person bin, dann erinnere ich mich ungern daran, wie ich vor 20 Jahren ein bestimmtes Junk-Food zu mir genommen habe."
Fotografie verändert das Vergessen
"In dem wir etwas aufschreiben, indem wir etwas fotografieren, wollen wir es uns besonders merken, das heißt, was wir nicht aufschreiben und nicht fotografieren, geben wir auch eher dem Vergessen preis," erklärt Kurator Kurt Wettengl.
Mit der Entdeckung der Fotografie begann ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit: das Vergessen veränderte sich rapide. In einer Vitrine kann man diese Entwicklung verfolgen. Das große, schwarz-weiße Familienfoto auf der linken Seite des Zeitstrahls ist schon fast vergilbt.
"Wir zeigen hier in der Vitrine eine Daguerreotypie, das heißt, eine Fotografie als Unikat, aus der Zeit um 1840."
Schon kurze Zeit später begann die Industrialisierung der Fotografie. Der Zeitstrahl wird breiter, es müssen immer mehr Fotos übereinander Platz finden.
"Früher haben die Menschen Fotoalben angelegt, in denen wenige Fotos- weil das ja auch relativ teuer war, aufbewahrt wurden. Das heißt, sie haben damit eben auch ihrem Leben eine ganz bestimmte Form gegeben, sie haben eine autobiographische Erzählung im Grunde genommen gemacht."
Starrten die Fotografierten anfangs noch gebannt in die Kamera, stellte sich mit den Jahren zunehmende Lockerheit ein, dann wurden die Fotos farbig und schließlich, am vorläufigen rechten Ende der Zeitachse, kommt ein heutiges Phänomen dazu: das massenhafte Selfie mit dem Smartphone.
"Wir haben uns in dieser Vitrine auf Personenfotografie beschränkt, weil heute das Posen vor der Kamera extreme Formen angenommen hat. Das bedeutet, dass der kommunikative Wert der Fotografie heute sehr, sehr stark ist und der Erinnerungswert demgegenüber etwas zurücktritt."
Gedächtnis ist immer sozial geprägt
In jeder Generation - das ist auf diesem fotografischen Ritt durch die letzten 150 Jahre deutlich zu sehen - ändert sich nicht nur der Umgang mit dem Medium, sondern auch die Mode, die Fahrzeuge oder die Architektur im Hintergrund. Das beeinflusst auch das kollektive Erinnern. Was verbinden wir zum Beispiel mit unserer Kindheit? Spielsachen, Plattencover oder Radiogeräte, wie sie in der Ausstellung zu sehen sind, rufen längst vergessene Assoziationen hervor, je nach Alter des Betrachters. Das Generationengedächtnis setzt ein.
Kulturwissenschaftlerin Astrid Erll: "Wir haben kein im strengen Sinne individuelles Gedächtnis. Unser Gedächtnis ist immer sozial geprägt. Schon dass, was Ihre höchstpersönlichen Kindheitserinnerungen sind, sind in Wirklichkeit soziale, sind kollektive Erinnerungen, weil Sie in einer sozialen Gruppe großgeworden sind, die Ihnen beigebracht hat, wie man erinnert, die mit Ihnen Sachen zusammen erlebt hat und die bestimmte Erinnerungen mit Ihnen immer wieder gemeinsam abgerufen hat".
Gesellschaftliche Umbrüche können Vergessen fördern
Die Frankfurter Ausstellung über das Vergessen und Erinnern beschränkt sich auf einen Zeitraum von rund 200 Jahren, also vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute.
Kurator Kurt Wettengl: "Die Zeit um 1800 ist eine Zeit, die durch besondere Beschleunigungsprozesse am Anfang der Moderne geprägt ist. Wir müssen uns vorstellen, dass damals Fabriken aufkommen, Großstädte wachsen. Das bedeutet, dass viele Menschen vom Land in die Stadt gehen. Erzählzusammenhänge, die bis dahin bestanden haben, lösen sich auf."
Man kann davon ausgehen, dass durch diese Beschleunigung und durch diese Veränderung auch die Frage des Erinnerns und Vergessens, auch die Frage nach den Gedächtnisleistungen in den Blick geraten ist. Denn in diese Zeitspanne fiel auch der Beginn der Hirnforschung. Einer ihrer Pioniere war der Frankfurter Arzt und spätere Mitbegründer der Frankfurter Universität, Ludwig Edinger.
"Ludwig Edinger gilt als der Begründer der vergleichenden Neurologie, so nannte man das damals, heute nennt man das Neuroanatomie. Neurologie war damals alles, was sich mit der Funktionsweise und der Erforschung der Funktionsweise des Gehirns, des Nervensystems beschäftigte," sagt Dr. Gerald Kreft, Soziologe am Ludwig-Edinger-Institut.
"Edinger hat sich in einer Privatpraxis in Frankfurt niedergelassen, weil der Antisemitismus der Gründerjahre bereits sich so durchgesetzt hatte, dass er keine Stelle mehr bekam, hat im Schlafzimmer nachts eben angefangen, Gehirne zu untersuchen."
Das menschliche Gehirn ist zu komplex
Anhand von Längsschnitten durch die Gehirne totgeborener Föten verschaffte sich Edinger eine genaue Kenntnis ihrer Anatomie, seine Veröffentlichungen dazu waren bahnbrechend. Und doch musste der Wissenschaftler, dem der ganzheitliche Blick auf den Menschen immer wichtiger war als die Untersuchung einzelner Organe, schließlich eingestehen: 'Es ist nicht möglich, beim Menschen anzufangen, wenn ich die Funktionsweise des Gehirns und die Entstehung des Bewusstseins verstehen will. Das menschliche Gehirn ist zu komplex. Wir kommen da nicht weiter. Wir müssen mit einfacheren Hirnen beginnen.'
Der Mediziner und Psychologe Alois Alzheimer, ebenfalls zeitgleich wie Edinger in Frankfurt tätig, entdeckte bei einer verstorbenen Patientin eine auffällige Veränderung der Hirnrinde. Die bis heute nicht abgeschlossene Erforschung der Demenz begann.
Ausstellung hilft Demenzkranken, sich zu erinnern
"Wir wissen nicht, wie sozusagen die neurowissenschaftlich im engeren Sinne betrachteten Bedingungen, die zerebralen Bedingungen sind. Aber was wir wissen, ist, dass die Gestaltung der Umwelt des Patienten Wunder wirkt," zitiert Gerald Kreft Edingers Nachfolger am Institut, den Neuropsychologen Kurt Goldstein. Dieses Motto könnte auch über dem Frankfurter Reminiszenz-Projekt stehen, bei dem demenzkranke Menschen ins Historische Museum kommen und animiert werden, sich zu erinnern.
Kurt Wettengl: "Das historische Museum ist dafür der ideale Ort, weil das historische Museum hunderte und tausendende von Alltagsgegenständen hat, die Erinnerungen von Menschen auslösen können, die bis zu 80 Jahre und älter sind. Dinge wie beispielsweise ein Henkelmann, eine Milchkanne oder ein Bonbonautomat."
Auch dem kollektiven Vergessen-Wollen ist eine Abteilung der Ausstellung gewidmet. Interessant zum Beispiel eine Sammlung alter Theater- und Opernprogrammhefte. Auf allen Titelblättern prangt in der Mitte ein mit der Schere geschnittenes Loch.
"Auf den ersten Blick wird vielleicht nicht deutlich, was ausgeschnitten wurde, wenn man es aber sagt, leuchtet es sofort ein: Das Hakenkreuz wurde aus allen Titelblättern entfernt."
Ähnlich rigide wurde ein großes Ölportrait Adolf Hitlers bearbeitet, das sich bis Kriegsende in den Räumen der Stadt Frankfurt befand.
Wettengl: "Wahrscheinlich direkt gegen Ende des Weltkrieges hat jemand mit flottem Pinsel und mit einer weißlich-rosa Farbe das Portrait übermalt und damit fast unkenntlich gemacht."
Autorin: "Fast. Wenn man genau hinguckt - erst sieht man wirklich nur die weiße Fläche, aber das Gesicht von Adolf Hitler kommt wieder hervor."
Wettengl: "Es ist beinahe so, als würde das Porträt im Lauf der Zeit durch die Übermalung hindurchwachsen. Es hat also hier Hitler jemand einerseits vergessen machen wollen, andererseits auch nicht so gründlich, dass er oder sie das Gemälde gleich zerstört hätte. Möglicherweise war man sich nicht ganz sicher, ...
Beide: "...ob man es nicht noch einmal brauchen kann."
Kulturelles Vergessen heute praktisch unmöglich
Zehn Jahre später schien das Grauen vergessen - die Wirtschaftswunderzeit begann. Doch kann man hier wirklich von Vergessen sprechen? Ist ein kulturelles Vergessen in unseren Zeiten überhaupt noch möglich?
Astrid Erll: "Ich würde denken, spätestens seit der Moderne, seit 1800, ist das nicht der Fall, weil es von fast jedem Ereignis irgendwo materiale Spuren gibt. In Archiven, in Tagebüchern..."
Oder in Museen.
Wettengl: "Wir haben den Künstler Mark Dain eingeladen zu einer Installation."
Autorin: "Aha. Also wir kommen durch einen weißen Vorhang in einen fast dunklen Raum, man muss eine Taschenlampe mit Rotlicht in die Hand nehmen, um überhaupt zu sehen, wo wir uns befinden. Was ist hier nachgebaut?"
Wettengl: "Mark Dain ist durch die verschiedensten Depots des historischen Museums gegangen, in den Depots befinden sich über 600.000 Objekte."
Auch Museen können vergessen
"Museen haben auch Mühe - gerade alte und große Museen -, wissen die Museen manchmal gar nicht mehr so richtig, was sie eigentlich da haben, weil die Dokumente vielleicht verloren gingen oder gar nicht erst richtig angelegt wurde, weil das Verständnis der Dinge, die da seit hundert Jahren da drin liegen im Depot vielleicht gar nicht mehr da ist, und es niemanden mehr gibt, der uns das noch erklären kann. Man vielleicht weiß, wie die Maschine heißt oder was es für ein Typ war, aber wer sie benutzt hat und warum sie überhaupt bei uns in der Sammlung ist - also es gibt ganz viele Gründe, warum Objekte vergessen wurden," sagt der Direktor des Frankfurter Museums, der Historiker Dr. Jan Gerchow. Auch ein Museum funktioniert eben ein bisschen wie ein Gehirn.
"Wenn ein Museum sammelt, muss es auswählen. Das ist wie beim Nachdenken oder beim Sprechen, man kann nicht alles gleichzeitig aussprechen, sondern man muss sich entscheiden und schließt damit automatisch alles Mögliche andere aus."
Und so können Objekte auch an einem Ort des Erinnerns in Vergessenheit geraten. Haben wir noch etwas vergessen? Ach ja, wie wollen wir eigentlich, dass man sich an uns erinnert? Die Bundesrepublik hat vorgesorgt:
"Wir haben hier einen Behälter für Mikrofilme, wie er tausendfach in dem Barbarastollen im Schwarzwald seit 1975 von der Bundesrepublik eingelagert wird," beschreibt Ausstellungskurator Kurt Wettengl.
"Hier finden sich beispielsweise Reproduktionen des Grundgesetzes, die Pläne für den Kölner Dom, die Pläne für die Startbahn West und viele Millionen anderer Dinge, die als man überlieferungswürdig erachtet."
Und zwar im Sinne der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut und unter Aufsicht des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz. Hoffen wir also, dass die Erdenbewohner der Zukunft nicht vergessen haben, wofür diese kochtopfartigen, schwarzen Behälter eigentlich gut sein sollen.