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Ausstellung über Dieter Roth
Zwischen Mehrfachbegabung und Maßlosigkeit

Seit 16 Jahren ist der Schweizer Künstler Dieter Roth bereits tot. Eine Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart widmet sich jetzt einem Aspekt in seinem Werk, der bislang etwas vernachlässigt wurde: wie intensiv Roth Sprache und Literatur verwendet hat. Motive, die sich durch fast alle seine Werkgruppen ziehen.

Von Christian Gampert |
    Die Nahaufnahmen einer Schreibfeder.
    Das Schreiben war für Diether Roth der Ursprung aller Kunst. (picture-alliance/ dpa / Hans Wiedl)
    "Balle Balle
    Knalle
    Wann knalln wir
    in der Halle?
    Wir ballern
    wenn der Knaller kommt
    Und knallern
    Was dem Baller frommt!
    Knalle Knalle
    Balle
    So ballerts
    in der Halle"
    So steht es geschrieben - auf der Fassade des landeshauptstädtischen Kunstmuseums, davor tobt der Stuttgarter Weihnachtsmarkt. Was insofern Sinn macht, als das Knallerballermann-Gedicht ganz offenbar dem Schema "Backe Backe Kuchen, der Bäcker hat gerufen" nachempfunden ist. Und der hier retrospektiv geehrte Künstler seine Ausbildung zum Werbegrafiker mit den Worten beschrieb: "Ich habe meistens Biergläser gezeichnet".
    Der 1998 gestorbene Dieter Roth war eine Mehrfachbegabung und ein offenbar maßloser Mensch. Alles, wirklich alles geriet ihm zur Kunst, die Sprache, das Zeichnen, das Leben. Wenn er damit kokettierte, eigentlich ein Dichter zu sein und Kunst nur zum Gelderwerb zu produzieren, so spiegelt das eher die Marktmechanismen: ein Buch braucht die hohe Auflage, um sich zu rechnen; das Kunstwerk setzt auf Singularität und erzielt so hohe Preise. Für Roth aber war alles einzigartig, auch das Buch, das er oft nur aus Typoskripten oder Fotokopien zusammenband. Selbst der Buchstabe, der sich bei ihm verselbstständigte und auf dem Papier seltsame Muster und abstruse Verkettungen bildete, war irgendwie heilig. Während die Kollegen von der Konkreten Poesie die Materialität der Sprache nur auf dem Papier untersuchten, erweiterte Roth seinen Buchstabensalat bald in die Zeichnung, das Bild, die Installation und natürlich die Performance, die Aktion, manchmal auch nur geflüstert.
    Das Schreiben ist für Roth der Ursprung. Die Stuttgarter Ausstellung trägt dem Rechnung, indem sie im ersten Raum die Bücher des Gesamtwerks neben einen Monitor stellt, wo Roth als früher Slam Poet seine Texte performt.
    Roths große Einsamkeit
    Das ist subversiver Nonsens, Dada, poetischer Bewusstseinsfluss, auch bei Auftritten in Gang gesetzt mit ungeheuren Mengen an Alkohol. Das alles hat seine lustigen, aber auch sehr traurige Seiten. Die letzten Lesungen wirken hilflos, und das im zentralen Raum mit 131 Monitoren aufgebaute Video-Tagebuch zeigt eine große Einsamkeit.
    Dabei war Roth ständig auf Achse, er hat in Hannover, Stuttgart, Basel, Island und Amerika gelebt, eine "Zeitschrift für alles" herausgegeben, war ständig umgeben von Bewunderern, Helfern und irgendwann auch genervten Bezugspersonen. Über 500 Bücher hat Roth veröffentlicht, das Theaterstück "Murmel" und "Scheiße"-Gedichte, und er hat jene Materialbilder produziert, die zu seinem eigentlichen Markenzeichen wurden.
    Denn dass man Literatur zu "Literaturwürsten" verarbeiten kann, eingeweichte, kleingehäckselte, gut gewürzte Zeitschriften in Naturdarm, das wusste man bis dahin noch nicht. Dass man die zur Herstellung eines Bildes notwendigen Utensilien wie Farbtuben, Pinsel und Töpfe selbst wiederum zu wilden Assemblagen sortieren kann, auch das war neu – der mit Roth gut bekannte frühere Balletttänzer Daniel Spoerri hat das mit seinen Speise-Installationen weitergeführt. Aber auch Roth nutzte ab den 1960er-Jahren Lebensmittel, also verderbliche Materialien, und schuf (hinter Glas) Käseplatten, Rotkohl- und Schokoladenbilder als skurril wuchernde Landschaften.
    Es geht also um Vergänglichkeit, um die Frage: Wer bin ich? Wo bin ich? Und natürlich um das Prozesshafte und Unabgeschlossene der sich in immer neuen Werken manifestierenden Kunst, manchmal hunderte von Blättern an einem Tag. Richard Hamilton, eher ein Perfektionist, verzweifelte an der Zusammenarbeit mit Roth, der immer sagte: lass das so, das ist doch schon fertig.
    Fertig aber war Roth selber nie, höchstens sein Körper; er selber begann stets etwas Anderes und nie dagewesenes, ein "Tagebuch der Dinge", das flachen Abfall archiviert, und vor allem die "große Tischruine", eine immer weiter wachsende monströse Installation, die im obersten Stock den auch künstlerischen Höhepunkt dieser ganz aus der Schrift sich entwickelnden, großartigen, animierenden, belebenden Retrospektive bildet. Bis heute werden auf jeder Ausstellungsstation immer mehr Gegenstände in dieses riesenhaft angewachsene, hallenfüllende Kunstwerk integriert, von Bierkisten bis zu Bleistiften und allem möglichen Abfall. Auch eine Art, sich als Künstler unsterblich zu machen, indem "es", das Werk, auch post mortem immer weiter arbeitet.