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Ausstellung über Tel Aviv
Mehr als Sündenbabel und Amüsierzentrum

Die israelische Küstenmetropole Tel Aviv erfindet sich immer wieder neu. Mal wird sie als „Bauhaus-Stadt“ gefeiert, mal als Partyzentrale oder als „city that never sleeps“. Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Hohenems beleuchtet nicht nur die strahlenden Seiten der Stadt, sondern räumt auch mit Gründungsmythen auf.

Von Christian Gampert |
Innerhalb der Ausstellung stehen Archtitekturmodelle auf hölzernen Transportkisten zwischen Videoprojektionen
Die Ausstellung "All About Tel Aviv-Jaffa. Die Erfindung einer Stadt" im Jüdischen Museum Hohenems (Dietmar Walser)
Ausgangspunkt der Kuratoren ist das erfolgreiche "City Branding" der gemeindeeigenen Werbeabteilung: In den 1970er Jahren war Tel Aviv vom Verfall bedroht, viele Familien verließen die Stadt. Eine Imagekampagne der Stadtverwaltung erfand dann ab den 1980er Jahren "Die weiße Stadt" - nicht nur für die Touristen, sondern auch für die eigenen Bewohner: Die nach dem "Internationalen Stil" errichteten Bauhaus-Gebäude der 1930er und 40er Jahre – und das sind immerhin rund 4000 – wurden wenigstens teilweise renoviert und manchmal auch halblegal aufgestockt. Und man erweiterte die Ladenöffnungszeiten auf 24 Stunden und nannte sich fortan "Nonstop-City", "the City that never sleeps". Das hatte Erfolg! Und das boomende Strandleben lässt die Stadt dem oberflächlichen Besucher bis heute als eine einzige Partymeile erscheinen, besonders im feuchtheißen Sommer.
Gigantische Verdrängungsleistung
Designer entwerfen sogar Plakate und Leuchtkästen, die Tel Aviv als losgelöst vom übrigen Israel zeigen: "The State of Tel Aviv". Und Kurator Hannes Sulzenbacher behauptet, das Klischee, das Tel Aviv von sich selbst verbreite, beruhe auf einer gigantischen Verdrängungsleistung, einer Entsorgung von Geschichte.
"Das ist eine Stadt, die mit dem Nahostkonflikt scheinbar nichts zu tun hat, in der Multikulturalität gefeiert wird. Es ist eine Stadt, in der vom Militarismus Israels nichts zu spüren ist, sondern in der alle entspannt sind und, wenn sie nicht gerade in Start-up-Unternehmen arbeiten, sich auf einer Party befinden."
Das ist alles fast richtig, und doch ist auch das Gegenteil wahr: In Tel Aviv befinden sich Verteidigungsministerium und die Kommandozentrale der Armee. Hier wurden während der zweiten Intifada die brutalsten Selbstmordattentate verübt. Hier gibt es die höchsten Mietpreise und die größte Wohnungsnot. Party feiern nur die jungen Leute und die Touristen, die Alten hocken verschüchtert in ihren kleinen Wohnungen. Und alle anderen kämpfen um die Arbeitsplätze.
Nachbar Jaffa
"Die meisten Familien haben auch irgendjemanden zu betrauern durch irgendeinen Krieg. Und das spürt man schon", sagt der Fotograf Peter Loewy. Seine einfühlsam dokumentierten Straßenszenen führen den Ausstellungsbesucher durch das heutige Tel Aviv, durch Kulturtempel und Problemviertel, über Märkte und Strände, vorbei an Schwulenparaden, heruntergekommenen Wohnhäusern und sehr neuen Wolkenkratzern bis zum brutalistischen Busbahnhof, wo die Geschäfte leerstehen und afrikanische Migranten campieren. Und weiter bis nach Jaffa, wo die arabische Bevölkerung sich die Mietpreise nicht mehr leisten kann und in die Vorstädte zieht. In Jaffa wohnen in den Abbruchhäusern nun mittellose israelische Künstler und in den renovierten Immobilien reiche Manager.
Superkritische, gut argumentierende Ausstellung
Die superkritische, aber gut argumentierende Ausstellung deckt immer wieder kleinere Schummeleien in den Gründungsmythen von Tel Aviv auf: So ist das angebliche Gründungsfoto, das 1908 die 60 jüdischen Gründerfamilien in den Sanddünen vor Jaffa zeigt, wahrscheinlich falsch datiert. Auch haben von den jüdischen Bauhaus-Architekten, die in den 1930er Jahren vor den Nazis flüchteten und die "weiße Stadt" erbauten, die wenigsten am Bauhaus direkt studiert. Aber so what? Sie waren halt von der Bauhaus-Ideologie beeinflusst. Viel wichtiger ist doch, dass Tel Aviv Rettung für viele Flüchtlinge bedeutete – und nun fatalerweise seit vielen Jahren keinen sozialen Wohnungsbau mehr betreibt, sondern das Feld den Immobilienhaien überlässt.
Tel Aviv ist ein Sündenbabel und Amüsierzentrum, immer am Rand des nächsten Krieges – und nebenbei die säkularste, aufgeklärteste und chancenreichste Metropole dieses so widersprüchlichen, in sich selbst zerrissenen israelischen Staates. Es ist fest in den Krallen des Kapitalismus, des Tourismus, der Digitalindustrie. Und doch… und doch: Tel Aviv ist eine Heimat für alle Heimatlosen dieser Welt. Die Frage ist nur, wie lange noch?