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Ausstellung
Vom Schicksal gotischer Kathedralen

Die Städte Köln und Paris beherbergen je einen weltberühmten Dom und eine weltberühmte Kathedrale. Victor Hugo und Johann Wolfgang von Goethe haben den Bauwerken geistige Denkmale gesetzt und damit zum Revival der Gotik im 19. Jahrhundert beigetragen. Erstmals überhaupt wird das Thema jetzt museal bearbeitet.

Von Björn Stüben |
    Er sieht ziemlich lädiert aus, der überlebensgroße Kopf aus Kalkstein. Es handelt sich um ein gekröntes Haupt, das ist zumindest noch zu erkennen, dessen Gesicht jedoch vom Sturz aus großer Höhe zerschlagen wurde. Es ist einer der Originalköpfe der Fassade der Pariser Kathedrale Notre-Dame, von französischen Revolutionären 1792 geschändet, der jetzt stellvertretend für das Schicksal gotischer Kathedralen im Musée des Beaux-Arts von Rouen zu sehen ist.
    Auf der Suche nach den Wurzeln nationaler Baukunst
    Unter dem Ausstellungstitel "Kathedralen 1789-1914: ein moderner Mythos" sind an die 300 Exponate vereint, darunter Ölgemälde, Lithographien, Tuschzeichnungen, historische Fotografien und Filmsequenzen, Porzellan- und Glasvasen, Gipsplastiken und Postkarten. Die seit dem Aufkommen der Renaissance als barbarisch und stillos angesehene gotische Architektur, deren edelste Zeugnisse einst die Kathedralen darstellten, wurde zur Zeit der Romantik in Europa wieder aus der historischen Mottenkiste gezogen und dies vor allem auf der Suche nach den Wurzeln nationaler Baukunst.
    Kein Wunder also, dass sich die Schau in Rouen in zwei Sälen ausführlich den zwei Protagonisten dieses Revivals widmet: Victor Hugo und Johann Wolfgang von Goethe. Dieser schrieb 1773 in seinem Text "Von deutscher Baukunst" über seine Entdeckung der Kathedrale in Straßburg:
    "Als ich das erste Mal nach dem Münster ging, hatte ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks war ein abgesagter Feind der verworrnen Willkürlichkeiten gotischer Verzierungen. Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davortrat! Ein großer Eindruck füllte meine Seele, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand."
    Star des Gotikrevivals in Deutschland war der Kölner Dom,
    Goethes Bewunderung galt auch dem Baumeister Erwin von Steinbach, dem er die Errichtung des Straßburger Münsters zuschrieb. Die Schau zeigt ein pathetisches Gemälde, auf dem Théophile Schuler 1846 die Figur dieses Architekten verklärte, während Caspar David Friedrich bereits 1818 den romantischen Blick durch eine Gartenlaube auf einen gotischen Dom im Mondschein lieferte. Star des Gotikrevivals in Deutschland war jedoch zweifellos der Kölner Dom, der mit viel nationalem Pathos nach Jahrhunderten der Bauunterbrechung 1880 endlich vollendet wurde.
    Die Schau huldigt dem weltgrößten gotischen Bau mit Skizzen und zahlreichen gemalten Ansichten. Noch bevor Victor Hugo mit seinem historischen Roman Notre-Dame de Paris wieder den Blick seiner Zeitgenossen auf die gotische Architektur Frankreichs lenkte und sie in exzellenten Tuschzeichnungen verewigte, waren es erstaunlicherweise englische Maler wie John Constable, die die Kathedralbauten Englands, aber auch der Normandie in ihre Bildmittelpunkte rückten.
    Die Denkmalpflege in Frankreich nahm damals ihren Anfang und der Architekt Viollet-le-Duc stürzte sich ins Abenteuer der Erhaltung und vor allem freien Rekonstruktion gotischer Denkmäler. Historische Fotos zeigen in der Schau seine berühmten Ungeheuer hoch oben an den Turmspitzen von Notre-Dame in Paris, Skulpturen - so faszinierend unheimlich wie historisch falsch, denn sie entsprangen lediglich seiner Fantasie und blinden Begeisterung fürs Mittelalter.
    "Unser ganzes Frankreich steckt in den Kathedralen, ebenso wie ganz Griechenland im Pantheon steckt" schrieb Auguste Rodin 1914. Seine Skulptur zweier verschlungener Hände von 1908 versinnbildlichte für ihn ein gotisches Gewölbe, daher ihr Titel, "Die Kathedrale".
    Dann folgt in der Schau eine ästhetische Zäsur: der Erste Weltkrieg. Beim deutschen Angriff auf Reims ließ die Hitze des Dachstuhlbrands der Kathedrale geschmolzenes Blei durch die gotischen Wasserspeier rinnen, von denen die Schau ein Original als schauriges Mahnmal vorführt. Lyonel Feininger beschließt die Schau mit seinem Holzschnitt "Die Kathedrale des Sozialismus", mit dem er 1919 das erste Bauhaus-Manifest einleitete. Die gotische Kathedrale erscheint hier aufgeladen mit der Bedeutung, den "neuen Bau der Zukunft", das Gesamtkunstwerk zu verkörpern.
    Und so haben sich fast eineinhalb Jahrhunderte lang Generationen von Schriftstellern, Politikern, Künstlern und Architekten den gotischen Kathedralbau für ihre Zwecke und Visionen zurecht gebogen und damit vor allem eines erreicht, das architektonische Erbe der Gotik vor dem sicheren Zerfall zu retten.