Engelbert Humperdinck am Klavier – wahrscheinlich stammt diese Rollenaufnahme des "Abendsegens" aus dem Jahr 1904. Da ist seine Märchenoper "Hänsel und Gretel" bereits zehn Jahre lang ein Kassenschlager. Weder "Die sieben Geißlein", "Dornröschen" oder "Die Heirat wider Willen" noch "Die Marketenderin", "Gaudeamus" oder sein Melodram "Königskinder" werden an diesen Erfolg anknüpfen. Dafür stimmt zeitlebens das Merchandising rund um "Hänsel und Gretel". Zum Beispiel beim Vertrieb von Postkarten.
Das erste Objekt in der Ausstellung zeigt - "Knusper, knusper, Knäuschen" - Hänsel und Gretel vor dem Pfefferkuchenhäuschen. Aufgenommen ist das Foto im Garten der Humperdincks in Boppard: Böse Hexe, ein Mädchen mit Körbchen, Tochter Edith Humperdinck, und barfuß ein blonder Bengel – Wolfram Humperdinck, der einzige Sohn des Komponisten. Der Junge, der sich grad einen Pfefferkuchen schnappt, ist in der Oper eigentlich das hungrige Kind einer armen Besenbinderfamilie.
Vom Tellerwäscher zum Millionär
Inszeniert ist aber alles vor Birken im Bopparder Garten des neu erworbenen Humperdinck-Schlösschens hoch überm Rhein, nur fünf Jahre nach der Uraufführung der Märchenoper durch Richard Strauss. Diese Villa in Boppard konnten sich die Humperdincks locker leisten nach dem Riesenerfolg von "Hänsel und Gretel", sagt Ausstellungskurator Christian Ubber:
"Humperdinck ist in dem einen Jahr seit der Uraufführung wirklich zum Millionär geworden. Wir haben ja die Tantiemenabrechnungen und können es daher gut nachvollziehen. Es ging wirklich um die Welt, damals sehr, sehr schnell. Vorher war er ein unterbezahlter Hochschullehrer und Musikkritiker. Also quasi vom Tellerwäscher zum Millionär."
Das Libretto geschrieben hat Engelberts Schwester Adelheid Wette: Familie, Hexe, Märchen und Weihnachten - der Mix kam an. Christian Ubber:
"Also Adelheid Wette und Humperdinck haben es durchaus verstanden, diese Geschichte des Märchens, die ja durchaus auch ihre grausamen Seiten hat, herunter zu brechen, familientauglich zu machen. Damit hat man durchweg sympathische Hauptfiguren und da kann sich jeder, der als Familie da rein geht, voll mit identifizieren."
"Erinnerungen an Ernestine": der Tod der Schwester
Die Geschwister sind von da an gefragte Spezialisten für Kinder- und Weihnachtslieder. Eine Vitrine kurz vor dem Ende der Ausstellung zeigt Auftragsarbeiten wie das Klavierlied-Heftchen "Die Deutsche Weihnacht" mit "Glöckners Christfest". Auch da wieder: Not und Armut als Thema fürs Ständchen unterm Tannenbaum. Der Text zu Humperdincks Akkorden: "Aus hartem Weh klagt menschlich’s G’schlecht". Pikant: Hinter der Vitrine hängt ein großes Ölgemälde, es ist das Lieblingsbild Humperdincks. Es zeigt Renaissance-Menschen bei der Weinlese und Weinverkostung. Dass er selbst gerne trank, belegt die Ausstellung. Ebenso, dass er gerne Fahrrad fuhr und fotografierte. Einer seiner Flügel ist ein Hingucker: Es ist ein im Jugendstil gearbeiteter und mit Intarsien belegter Glocken-Flügel, der nach allen Seiten aufklappbar ist.
Zwar sucht die Ausstellung den Menschen hinter seinem Werk zwischen Romantik und Moderne – Humperdinck war in Berlin ja auch Kompositionslehrer von Kurt Weill. So richtig findet sie ihn aber nicht, zumindest als Person, etwa als katholischer Ehemann einer strengen Protestantin, als Märchen erzählender Familienvater oder Bruder. Was hat der Tod einer seiner Schwestern, der Tod von Ernestine 1873 mit ihm gemacht? Das fragt man sich, während man seinen Eintrag im Poesie-Album sieht, eine Leihgabe des Humperdinck-Verehrers Kai Diekmann. Der Ex-Chefredakteur der Bild-Zeitung besitzt heute eine Villa auf Usedom, die auch Humperdinck von Berlin aus als Sommerfrische diente.
Hinrich Alpers hat dieses Klavierstückchen, "Erinnerung" für Ernestine, inzwischen eingespielt, die Notenzeilen aus dem Poesie-Album sind das zweitjüngste erhaltene Werk von Engelbert Humperdinck. Andere Jugendwerke verbrannten bei einem Dachstuhlbrand des Siegburger Geburtshauses.
In der Ausstellung dominieren eindeutig musikwissenschaftliche Fragestellungen: Nach dem Hurra-Patriotismus aus seiner Feder - etwa wie beim "Festgesang an den Kaiser". Oder nach seinen knappen Urteilen im Tagebuch über andere Komponisten – Mahlers Zweite "zu viel Aufwand, großer Applaus", Bruckners Achte "sehr ermüdend", Bruch generell "schwach" und "ziemlich conventionell", Brahms B-Dur-Quartett dagegen "herrlich". Brahms und Humperdinck trafen sich in ihrem Geschmack bei der Kontrapunktik von Wagners Meistersingern.
Anerkennung von Wagner zählte für Humperdinck mehr als alles andere
Als 25-Jähriger war Humperdinck schon mit reich dotierten Kompositions- und Reisestipendien versehen. So kam er zu Richard Wagner nach Italien und gewann sein Vertrauen. Er wurde musikalisches Mädchen für alles rund um die Uraufführung des Parsifal 1882 in Bayreuth, und er wurde der musikalische Lehrer Siegfried Wagners. Wenn man sich tief runterbückt, bekommt man Einblick in ein altes Bayreuther Bühnenbildmodell. Es erklärt ein besonderes Problem im ersten Aufzug des Parsifal: Den Bühnenarbeitern fehlte Zeit zur Verwandlung des Waldes zur Säulenhalle des Gralstempels. Wagner hatte da also zu knapp komponiert in diesem Mammutwerk. Humperdinck durfte für die Parsifal-Uraufführung zwei Partiturseiten im Wagner-Stil dazukomponieren, damit die Szene gelang. Auch diese Noten werden in Siegburg gezeigt, mit der dazu passenden Notiz des Uraufführungsdirigenten Hermann Levi. Humperdinck-Forscher Christian Ubber:
"Diese Ergänzung der Parsifal-Partitur, dass Richard Wagner die anerkannt hat und dann auch so hat in der Uraufführung spielen lassen, hat Humperdinck selber immer als seinen allerhöchsten Kompositionspreis betrachtet. Er hatte ja zuvor Mozart-Stipendium, Meyerbeer-Stipendium und Mendelssohn-Stipendium gewonnen. Aber diese Anerkennung von Richard Wagner zählte ihm mehr als alles andere."
So geprägt, hat es Engelbert Humperdinck elf Jahre später augenscheinlich nicht geschafft, "Hänsel und Gretel" bescheiden ein kleines Märchenspiel bleiben zu lassen. Das war der eigentliche Wunsch seiner Schwester Adelheid. Die Hexenritt-Partitur in Siegburg liefert den Beweis für diejenigen, die in Humperdinck vor allem den Wagner-Adepten sehen.
Totenmaske und Beileidstelegramme der Eheleute Hauptmann und Pfitzner sowie Puccinis sind die letzen Objekte von "Hokuspokus Hexenschuss". Rühr dich und dich trifft der Fluss, droht die Hexe in "Hänsel und Gretel". Engelbert Humperdinck starb am 27. September 1921, vor bald 100 Jahren, in Neustrelitz. Nur einen Tag nach einem Schlaganfall, den er dort beim Besuch einer "Freischütz"-Aufführung erlitten hat, die sein Sohn Wolfram inszeniert hatte. Der wiederum Patenkind von Cosima Wagner war und späterer Regieassistent Siegfried Wagners in Bayreuth. Die Musikerkarriere eines Mannes mit großem Familiensinn: In Siegburg wird ausschnittsweise sehr gut sichtbar, wie die Firma und Familie Humperdinck funktionierte.