Ulrich Biermann: Ob die Flüchtlinge, die seit Jahren nach Europa kommen, die Opfer von Naturkatastrophen wie aktuell "Harvey" und "Irma" in Karibik oder USA oder Besucher des Glastonbury Festivals – sie alle finden über kurz oder lang ein Dach über dem Kopf, oder eine Struktur, in der sie für einige Tage oder mehrere Monate zuhause sein können. Schnell entstanden, funktional und auch schnell wieder verschwunden: kurzfristige Bauten und Strukturen, die dem Dauerhaftigkeitsanspruch von Architektur widersprechen. Und genau darum geht es ab heute in der Münchner Pinakothek der Moderne: "Does Permanence Matter?" heißt die Ausstellung, die Andres Lepik mit kuratiert hat. Willkommen zum Corsogespräch.
Andres Lepik: Ja, vielen Dank für die Einladung.
Viele temporäre Dinge passieren, ohne dass wir sie wahrnehmen
Biermann: Spannende Frage, die Sie da stellen. Und überraschende Beispiele – wir haben viel mehr Kurzfrist-Bauten und -Strukturen als wir denken: Jeder Markt, der Karneval in Rio oder Köln, selbst das Oktoberfest, alles kurzlebige Architektur. War Ihnen das klar?
Lepik: In diesem Ausmaß war es mir nicht klar. Und ich bin doch selbst überrascht, wenn man mit dem Filter einer solchen Ausstellung durch die Stadt geht, was man dann plötzlich auch wieder an jeder Ecke plötzlich bemerkt, wo überall so kleine Nischen und Taschen sind, wo wieder ein Wochenmarkt, den man gar nicht richtig gesehen hat, stattfindet und andere Strukturen, die da temporär eben auftauchen und wieder verschwinden. Wenn man einmal den Blick geschärft hat, glaube ich, dann merkt man, wie viel solche temporären Dinge in der Stadt auch passieren, ohne dass wir es wahrnehmen.
Biermann: Welche Chancen bieten diese temporären Strukturen?
Lepik: Sie bieten die Möglichkeit, eine Art von Energie aufzunehmen, die in der Stadt ständig vorhanden ist. Dass Menschen sich sozialisieren wollen beim Einkaufen und eben nicht nur digital bestellen, sondern dass sie auch sich treffen wollen, mit Menschen reden wollen. Und diese Strukturen nehmen das auf.
Biermann: Und da geht es ja dann nicht nur um Märkte oder aber Flüchtlingsunterkünfte, das ist dann auch zum Beispiel Thema in Ihrer Ausstellung der Haddsch nach Mekka oder Kupferabbau in der Atacama-Wüste in Chile. Wie kommt das zusammen?
Lepik: Es geht, wie Sie es anfangs gesagt haben, eigentlich immer um diese Frage nach leichten Tragwerken, nach leichten Strukturen, die man auf- und abbauen kann, die dann eben von ganz kleinen Strukturen, Zelte, die vielleicht für zwei bis vier Personen sind, bis zu eben riesigen Zelten wie auf dem Oktoberfest, von Flüchtlingslagern bis zu 350.000 Menschen, die da untergebracht sind, bis eben… also diese ganzen Strukturen. Wie können die aufgebaut oder abgebaut werden, wie können sie gleichzeitig auch für diese Menschenmassen, die da teilweise in diese Festivals gehen, auf diese Pilgerzüge gehen, wie können die trotzdem einigermaßen sicher sein? Wie können die auch eine gewisse Form von Privatheit dann doch noch erlauben? Und wie können sie auch brandsicher, paniksicher… solche Fragen stellen sich.
Architektur kann sich nicht nur um das Dauerhafte kümmern
Biermann: Heißt das auch, diese Strukturen sind die Absage an die schon in den ersten Architekturtheorien formulierten Ansprüche an Dauerhaftigkeit von Architektur?
Lepik: Nein, es ist keine Absage. Es ist eher ein Versuch, mit dieser Ausstellung mal diese Balance wiederherzustellen, dass eben Architektur sich nicht nur um das Dauerhafte kümmern kann und soll, sondern daneben parallel auch die nicht so dauerhaften Bauten auch genauso, mit genauso viel Sorgfalt und mit so viel Qualitätsanspruch auch, sich drum kümmern kann.
Biermann: Sind wir vielleicht in unserem Anspruch, dauerhaft zu bauen, besonders hier in Mitteleuropa, zu anspruchsvoll?
Lepik: Ich denke, schon. Die Regulierungen sind ja auch bis zu einem Grad so weit fortgeschritten, dass es fast keine Spielräume mehr gibt, irgendwo flexibel Dinge zu bauen und herzustellen. Und ich glaube, da muss man auch jetzt an so einem Punkt mal wieder überlegen: Wenn wir es denn zulassen, dass in der Fußgängerzone Christkindlmärkte stattfinden, billigste Bretterbuden sozusagen, wenn wir das schön finden, wenn wir uns mit solchen Dingen auch dann anfreunden können, warum kann es nicht auch andere Strukturen geben, die wir einfach zulassen?
Biermann: Ist das aber nicht vielleicht auch mehr als nur eine stadtplanerische oder architektonische Frage, dieser Anspruch an Dauerhaftigkeit? Es gibt diesen schönen Satz von Nietzsche: "Alle Lust will Ewigkeit." Angesichts der Begrenztheit unserer Existenz ist doch verständlich, dass wir uns was Dauerhaftes wünschen.
Lepik: Wir alle wissen, dass natürlich der Wunsch nach Dauerhaftigkeit für den Menschen sozusagen eine Menschheitsgeschichte ist, aber auf der anderen Seite wissen wir genauso, dass die Menschen ebenso viel Lust an dem Temporären haben, aus ihren gebauten Villen ins Oktoberfestzelt zu gehen mit 6.000 Menschen. Wenn man sie woanders in ein Zelt mit 6.000 Menschen treiben würde, würden die Menschen heftigst protestieren. Aber da gelten andere Regeln und da finden sie auch Lust daran. Und dieses Aufheben von Regeln in einer solchen temporären Struktur, ich glaube, das ist etwas, wo man die Vorstellung mal ein bisschen verändern muss.
Immer auf Migrationswellen vorbereitet sein
Biermann: Und dieses Aufheben von Regeln findet ja nicht nur zum Beispiel bei Flüchtlingsunterkünften statt, sondern es gibt ja auch viele Wohnprojekte, Wohnformen, die fragen sich: Soll meine Behausung mich überdauern? Und meinen damit eben nicht Zelte.
Lepik: Natürlich. Ich meine, wir hatten schon in der Nachkriegszeit in den 50er-Jahren eine große Not, wo sehr viele temporäre Bauten gebaut wurden, um die Millionen von Kriegsflüchtlingen wieder aufzunehmen, die nach Bayern, nach Deutschland zurückgekommen sind. Und da galt auch gar nicht der Anspruch, dass diese Lager für ewig bleiben sollten, sondern es war natürlich das Ziel, dass man da Menschen mal kurzfristig unterbringt, bis sie dann die Möglichkeiten haben, sich auch vielleicht festere Häuser zu bauen. Es kommen immer wieder solche Wellen vor, und ich denke, man muss immer wieder dann für solche Wellen vorbereitet sein.
Biermann: Wo sehen Sie die Chancen in der Zukunft?
Lepik: Ich sehe die Chancen in einer… quasi mehr Diversität zuzulassen, auch innerhalb der gebauten Städte. Natürlich brauchen wir feste Infrastrukturen, man kann nicht Straßen jeden Tag woanders hinfahren lassen und auch nicht die Schienen der Straßenbahnen. Aber man kann Öffnungen zulassen, man kann Freiräume zulassen, in denen Märkte, in denen andere Dinge vielleicht mehr stattfinden, in denen auch mal einfach flexible Nutzungen erlaubt werden, die man den Bürgern, die man einer Bürgergesellschaft selbst überlässt.
Biermann: Interessant aber bei vielen Beispielen, die Sie bringen in Ihrer Ausstellung: Vieles sind Orte des Konsums. Bieten die sich vielleicht sehr viel mehr an für solche kurzfristigen Strukturen, die sich dann doch irgendwie etablieren?
Lepik: Natürlich sind auch solche Musikfestivals wie wir sie zeigen, die sind natürlich irgendwo konsumorientiert ein bisschen. Aber andererseits zum Beispiel der Haddsch, der Pilgerzug der Moslems nach Mekka, ist überhaupt nicht konsumorientiert und hat trotzdem eine unglaublich raffinierte Infrastruktur entwickelt. Auch das größte Beispiel, was wir haben, eben das Kumbh Mela, das religiöse Festival in Indien, wo täglich bis zu 30 Millionen Menschen hingehen, das ist eine Megacity, die nur temporär da existiert – da geht es auch nicht um Konsum, sondern da geht es wirklich um Begegnung, um religiöse Erfahrung und andere Dinge.
Biermann: "Does Permanence Matter?" in der Pinakothek der Moderne in München. Ab heute zu sehen, bis in den März des nächsten Jahres hinein. Einer der Kuratoren, Andres Lepik, im Corsogespräch. Danke Ihnen!
Lepik: Danke Ihnen!
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