Antje Allroggen: 70 Jahre nach Kriegsende - der genaue Stichtag liegt nur noch knappe zwei Wochen entfernt - tut sich Deutschland noch immer schwer damit, sich mit der Kriegsvergangenheit zu befassen. Nicht nur die deutsche Justiz versäumte eine rechtzeitige Aufklärung von Kriegsverbrechen. Der derzeitige Lüneburger Prozess ist hier ein wichtiger Seismograf. Aber nicht nur die deutsche Rechtsprechung, auch Politik und Wirtschaft tabuisierten auch noch nach der Ära Adenauer eine Aufarbeitung der Kriegsgeschichte. 70 Jahre nach Kriegsende thematisiert nun eine Ausstellung im Berliner Deutschen Historischen Museum, wie sich das Überleben in den Trümmern für die Menschen unmittelbar nach Kriegsende eigentlich gestaltete, und blickt dabei nicht nur auf Deutschland, sondern auf elf weitere, vom Weltkrieg gezeichnete Länder. Zu welchen unterschiedlichen Formen der Vergangenheitsbewältigung es bei dieser Art der Betrachtung kam, habe ich die Kuratorin der Ausstellung, Babette Quinkert, gefragt.
Babette Quinkert: Mit dieser Ausstellung ist es uns wichtig, die Vielfalt individueller Perspektiven zu zeigen. Wir haben 36 Biografien ausgewählt, für jedes Land haben wir drei Personen gewählt, die wir in der Ausstellung vorstellen, und bei der Auswahl dieser Personen haben wir darauf geachtet, möglichst unterschiedliche Personen zu finden, also sowohl Kinder als auch Erwachsene, Männer und Frauen, Politiker und Prominente, aber auch ganz einfache und normale Menschen, und es ist uns wichtig, deutlich zu machen, dass das Kriegsende sehr vielfältig wahrgenommen worden ist. Das reicht von Jubel über die Befreiung und Euphorie bis hin zu Trauer und Niedergeschlagenheit oder Erschöpfung.
Allroggen: Wenn wir jetzt nach Deutschland erst mal schauen: Für viele Länder, von denen in Ihrer Ausstellung ja auch die Rede ist, war der Widerstand sicherlich nach dem Krieg das Identität stiftende Moment. Für Deutschland gab es diese Möglichkeit nicht. Mit welchen, ich sage mal, Überlebensstrategien war Deutschland ein Neuanfang überhaupt möglich, Babette Quinkert?
Quinkert: Für Deutschland charakteristisch ist, dass sich die deutsche Gesellschaft kaum kritisch mit dem auseinandergesetzt hat, was vorher geschehen ist. Die NS-Kriegsverbrechen reichen im Grunde bis unmittelbar an das Kriegsende heran. Von 700.000 Häftlingen in Konzentrationslagern - das sind meist ausländische Häftlinge - sterben zwischen Januar 1945 und Mai 1945 noch 350.000. Die Verbrechen der Endkriegsphase reichen bis in den Mai 1945 und es ist frappierend, dass die deutsche Gesellschaft nach der Befreiung durch die Alliierten im Grunde schweigt und sich damit nicht auseinandersetzt.
"Dazu ermutigen, sich die Nachbarländer anzugucken"
Allroggen: In Ihrer Ausstellung arbeiten Sie multiperspektivisch. Sie beleuchten, wie sich die unmittelbaren Nachkriegsjahre in verschiedenen Ländern und damit auch Gesellschaften vom Krieg gezeichnet darstellten. Birgt das nicht auch die Gefahr des Relativismus, hier ganz unweigerlich, wie wir es auch gerade getan haben, zu vergleichen?
Quinkert: Wir wollen weder bewerten noch vergleichen noch abwägen. Es geht uns darum, im Grunde den Besuchern die Möglichkeit zu geben, sich mit den einzelnen Ländern und auch mit Einzelpersonen in dieser Zeit zu befassen und sich in sie hineinzuversetzen und die Zeit nachvollziehbar zu machen. Wir machen das nicht nur auf der biografischen Ebene, sondern wir bieten natürlich auch die großen Entwicklungslinien, was politisch in dem Land passiert, was gesellschaftlich passiert, wie die Alltagssituation der Menschen ist, Fragen wie Versorgung, Zerstörung der Infrastruktur, Mangel, womit die meisten Gesellschaften nach '45 noch jahrelang zu tun hatten. Und wir haben auch festgestellt in Diskussionen, es ist gar nicht so selbstverständlich heutzutage, dass das Wissen darum, was während des Zweiten Weltkrieges in diesen Ländern geschehen ist, und auch die Perspektive dieser Länder nach '45 auf dieses Geschehen ist gar nicht so präsent in unserer Gesellschaft. Wenn man mal Menschen fragt, was sie wissen, was in Polen zwischen 1945 und '50 passiert ist, findet man oft ein Unwissen und keine Auseinandersetzung mit diesen Fragen, und wir sehen das als große Chance an, da Anregungen zu bieten, dazu zu ermutigen, sich die Nachbarländer anzugucken, sich auch kleine Länder anzugucken wie Luxemburg oder Belgien, die auch nicht so präsent sind in unseren Diskussionen.
Allroggen: Eine letzte Frage noch. Im kommenden Herbst soll ja das Haus der Europäischen Geschichte eröffnet werden in Brüssel. Wäre Ihre Ausstellung mit Ihrem Konzept nicht auch dort gut aufgehoben?
Quinkert: Grundsätzlich würde ich das natürlich bejahen. Sie nimmt zwölf Länder in den Blick und geht über Deutschland hinaus. Das ist immer eine Chance, sich mehreren Perspektiven anzunähern.
Allroggen: Die Kuratorin der Berliner Ausstellung "1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang", Babette Quinkert.
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