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Ausstieg aus Agenda 2010
Hartz-Reform hat "Position der SPD erheblich geschwächt"

Die SPD könne zurzeit nicht aus der Großen Koalition aussteigen, sagte der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer im Dlf. Denn sie habe "keine langfristige programmatische Alternative zur Union". Insofern sei es für die Partei notwendig, sich erst mal von der Belastung der Agenda 2010 zu befreien.

Gero Neugebauer im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    SPD Schriftzug
    Der SPD fehle die Perspektive, meint Politik-Experte Gero Neugebauer (Christoph Schmidt/dpa)
    Christoph Heinemann: Umfragen sind Umfragen. Das gilt auch für den Deutschland-Trend. Die Regierungskoalition in Berlin rutscht in der Wählergunst auf ein Rekordtief ab. Wäre am Sonntag Bundestagswahl, kämen Union und Sozialdemokraten demnach zusammen nur noch auf 41 Prozent der Stimmen. Vor der Bayern-Wahl steigt die Spannung.
    Unterdessen hat die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles den Abschied ihrer Partei von der Agenda 2010 des früheren SPD-Kanzlers Gerhard Schröder angekündigt. Zur Erinnerung: Zu diesen Reformen gehörten unter anderem das Hartz-IV-Gesetz zum Arbeitslosengeld II, die Absenkung des Rentenniveaus und weitere Leistungskürzungen im Sozialbereich. Ziel war es, das Wirtschaftswachstum zu stärken und die Arbeitslosigkeit zu verringern, was nach der Einschätzung einiger Wirtschaftswissenschaftler auch gelungen ist.
    Viele Sozialdemokraten lehnen diese Einschnitte allerdings nach wie vor ab. Darüber wollen wir jetzt sprechen. Am Telefon ist der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer, ehemals Hochschullehrer am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Guten Tag!
    Gero Neugebauer: Guten Tag, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Neugebauer, kann die SPD ein solches Wendemanöver weg von der Agenda 2010 als Regierungspartei ausführen?
    Neugebauer: Das kann sie als Bestandteil ihrer Erneuerungspolitik begreifen, dann allerdings außerhalb der Regierung, nämlich als eine Perspektive für die Zeit der nächsten Regierung, und sie muss es dann auch zusammen mit einer neuen Machtperspektive diskutieren.
    "Keine langfristige programmatische Alternative zur Union"
    Heinemann: Das weiß Andrea Nahles nicht?
    Neugebauer: Doch, das weiß sie. Aber sie verlegt damit den Schwerpunkt der Orientierung der SPD vom Regierungshandeln als kurzfristige Politik eher auf das Problem, was die SPD schon lange plagt, nämlich sie hat keine langfristige programmatische Alternative zur Union vor allen Dingen, die auch dazu führen kann, dass sie politisch alternative Angebote macht, und insofern ist es notwendig zu sagen: Okay, wir befreien uns erst mal von der Belastung der Agenda 2010. Das wird nur ein Problem geben mit dem Finanzminister Olaf Scholz; der war einer der damals glühenden Vertreter der Agenda 2010 Politik im Amt als Generalsekretär. Das gibt dann innerparteiliche Probleme.
    Heinemann: Hat Frau Nahles damit eine Tür aufgestoßen raus aus der Regierungskoalition?
    Neugebauer: Nein, nicht notwendigerweise. Sie kann allerdings in der Koalition nun deutlich machen, dass das, was die SPD in den vergangenen Großen Koalitionen ausgezeichnet hat, möglicherweise in dieser Koalition nicht mehr stattfindet, nämlich eine Konfliktscheu, eine Scheu vor Konflikten in bestimmten Punkten, und auch eine Orientierung an Zielen, die auf eine Wählergruppe abzielen, die auch von der CDU stark begehrt wird, nämlich sogenannte Wähler in der Mitte, und darunter vor allen Dingen mittlere/untere Mittelschicht, das, was allgemein "kleine Leute" genannt wird.
    Heinemann: Fördern und Fordern – das war der Grundsatz der Hartz-Reform. Wieso ist dieses Prinzip in der SPD nicht vermittelbar?
    Neugebauer: Eines der zentralen Probleme, dass die Vermittelbarkeit nicht funktionierte, war, dass in der Praxis das Fördern geringer betont wurde als das Fordern, dass der Eindruck entstand, dass hier eher gefordert wurde, dass durch den abrupten Absturz nach dem Wegfall des Arbeitslosengeldes II oder der alten Arbeitslosenhilfe auf die Arbeitslosengeld II Hartz-Formel viele Leute in soziale Verunsicherung geraten sind und viele befürchteten, möglicherweise bei einem Jobverlust dort hinzugeraten. Das heißt, das hat die Position der SPD erheblich geschwächt, und da, anders als bei anderen Dingen, dies in der Partei nicht diskutiert, sondern vom Kanzleramt, von Schröder aus dekretiert wurde, hat das nicht die erhoffte positive Resonanz erzielt.
    "Herausforderungen durch Globalisierung und Digitalisierung"
    Heinemann: Gerhard Schröder hat es immerhin erreicht, dass die SPD nicht mehr als Partei wahrgenommen wurde, die nur Geld umverteilen will. Entwickelt sich die Partei dorthin jetzt wieder zurück?
    Neugebauer: Das ist in der Tat ein Dilemma. Sie wird mit dem alten Bild, Sozis können nicht mit Geld umgehen, ebenso sich auseinandersetzen müssen wie mit der Frage, ob das, was sie von der Agenda 2010 jetzt noch erhalten oder revidieren will, dazu führt, dass sie in die alten Zustände zurückkehrt, und das geht natürlich auch nicht. Wir haben heute neue Rahmenbedingungen, wir haben andere Herausforderungen, allein durch die Globalisierung, durch die Digitalisierung der Arbeitswelt, durch die Konzentration auf Fragen der Vorbereitung auf das Arbeitsleben, das heißt Bildung, Weiterbildung, und insofern denke ich, dass einige Punkte von der alten Agenda 2010, insbesondere was Bildungspolitik angeht, durchaus erhalten bleiben werden. Aber im sozialpolitischen Bereich wird die Frage, ob der Staat sich wieder mal nicht der Nachsorge zuwenden muss, stärker diskutiert und entschieden werden müssen als gegenwärtig, wo der vorsorgende Staat im Vordergrund steht.
    "Die Sozialdemokratie kann aus der Koalition nicht aussteigen"
    Heinemann: Herr Neugebauer, schauen wir auf die bevorstehenden Urnengänge. Wenn die Landtagswahlen am Sonntag jetzt in Bayern, in zwei Wochen dann in Hessen enden, wie die Umfragen dies voraussagen, rechnen Sie dann damit, dass die Fliehkräfte in der Bundesregierung zunehmen werden?
    Neugebauer: Frau Merkel könnte das als eine Chance begreifen zu sagen: Leute, seid einig, einig, einig und stärkt die Union, indem ihr aufhört zu streiten. Es könnte dazu führen, dass die Sozialdemokratie sagt, wenn wir weiter herabgerissen werden, dann müssten wir sehen, ob wir nicht jetzt aussteigen. Aber im zweiten Fall: Die Sozialdemokratie kann aus der gegenwärtigen Koalition nicht aussteigen. Es gibt keine Perspektive, es sei denn, man spielt wirklich theoretisch mal alle Möglichkeiten durch und sagt, wir können auch bei einer Koalition aus CDU, Grünen und SPD landen. Aber ich sehe eher die Tendenz, dass der Schrecken über das Ergebnis, wenn es denn im Umfang ungefähr den Voraussagen entspricht, so stark sein wird, dass die innehalten werden und sagen, wie kommen wir jetzt wieder zusammen. Auch angesichts der Rahmenbedingungen, Handelskriege, Populismus, sinkende Prognosen, was Wirtschaftswachstum angeht, denke ich, dass eher der zweite Faktor, wir müssen uns jetzt besinnen und zusammenraufen, dazu führen wird, dass man sagt: Leute, stoppt mal diese Tendenzen des Auseinanderfliegens.
    "Faktisch haben die Volksparteien schon lange ausgedient"
    Heinemann: Haben die Volksparteien ausgedient?
    Neugebauer: Faktisch schon lange, weil keine Partei mehr angesichts des sozialen Wandels in der Lage ist, allen relevanten Gruppen in der Gesellschaft eine Repräsentation anzubieten, auch anzubieten, deren Interessen in Politik umzusetzen. Wenn die Parteien das selbst behaupten, dass sie Volksparteien sind, oder auf dem Weg zu Volksparteien, dann ist das eher eine Legitimation ihres eigenen Selbstverständnisses, hat aber mit der sozialen und der politischen Realität wenig zu tun.
    Heinemann: Welche Bedingung muss eine Partei denn heute erfüllen, um bei Wahlen erfolgreich zu sein?
    Neugebauer: Sie muss mobilisieren können. Gerade Landtagswahlen, aber auch Bundestagswahlen, aber Landtagswahlen, das sind Wahlen, bei denen es sehr stark auf die Mobilisierung ankommt. Und wenn Sie sehen, dass beispielsweise die Sozialdemokratie in Bayern zwar relativ viele Mitglieder hat, aber dass sie Schwierigkeiten hat zu mobilisieren, weil die Themen, die sie hat, auch von anderen vertreten werden, und die Themen zum Teil auch nicht mit den Erwartungen ihrer Anhänger übereinstimmen, wenn Sie sehen, dass die christlich-konservativen, liberal orientierten Wähler der CSU sagen, nein, dieser Ton gegenüber AfD oder in der Flüchtlingsfrage, das gefällt uns gar nicht, da gehen wir doch dann lieber grün wählen, oder wenn Sie dann sehen, dass die Populisten meinen, sie könnten einfache Lösungen anbieten, sich als Partei der neuen sozialen Gerechtigkeit offerieren, dann stellen Sie fest: Das ist nicht mehr so einfach zu sagen, wir können die großen gesellschaftlichen Gruppen, die es insofern gar nicht mehr gibt, weil es heute nicht mehr vorauszusetzen ist, dass der gewerkschaftlich orientierte Arbeiter SPD wählt, oder der katholische Beamte von vornherein CDU oder CSU, da sind eine ganze Menge von Kräften am Gange, die dazu führen, dass die Gesellschaft eine andere wird. Und wenn dann einer Partei vorgeworfen wird, sie habe das nicht erkannt, dann muss sie sich fragen, habe ich das mit meiner Politik tatsächlich nicht sehen wollen oder nicht sehen können, und eine gewisse Ignoranz ist da manchmal schon festzustellen.
    Heinemann: Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Neugebauer: Auf Wiederhören, Herr Heinemann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.