"Es hat einen guten Grund, warum derzeit das Thema Politik sogar im Mainstream-Pop auftaucht. Die Menschen haben realisiert, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Niemand kann sich mehr vor den gesellschaftlichen Problemen verstecken. Viele Popsongs zeigen diese Probleme auf. Nun fragen sich alle, wie man sie lösen kann."
Die Popmusik unserer Tage zeigt sich so gesellschaftskritisch, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, sagt Austra-Sängerin Katie Stelmanis. In der Tat: Beyoncé, Kendrik Lamar und sogar die Balladen-Queen Alicia Keys machen sich Gedanken über Rassismus, Polizeigewalt und die dahinter stehenden Strukturen. Doch nicht nur der R'n'B in den USA hat im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung sein politisches Bewusstsein neu entdeckt. Auch Künstler anderer Pop-Genres wie etwa Radiohead, Anohni und jetzt Austra haben die Politik zum Thema ihrer jüngsten Alben gemacht.
Songs über soziale Ungerechtigkeit
"Future Politics" heißt das dritte Album der Synth-Pop-Band aus Kanada. Austra agierte bisher im Spannungsfeld zwischen der klassisch geschulten Sopran-Stimme von Stelmanis und ihren Texten über quere Identität und Beziehungsdramen. Auf "Future Politics" setzt die Frontfrau nun die Feder bei sozialer Ungerechtigkeit, den negativen Effekten der Globalisierung und dem Aufstieg des Rechtspopulismus an.
"Wir alle werden Zeugen, wie sich die Welt vor unseren Augen auflöst. Jeden Tag hagelt es schlechte Nachrichten: Umweltzerstörung, Krieg, die steigende Ungleichheit zwischen den Gesellschaftsschichten. Ich denke, wir leiden an einer kollektiven Depression. Obwohl wir ständig kommunizieren, werden wir immer einsamer. Und nun suchen viele Menschen ihr Heil im Nationalismus, der natürlich keine Lösungen bringen wird."
"Ich lebe in einer Stadt voller Menschen, die sich alle nicht kennen." So lauten die ersten Textzeilen von "Utopia", der ersten Single des neuen Austra-Albums. Nach Querelen in der Band und im Privatleben hat sich Katie Stelmanis zum Schreiben in die ihr unbekannte Stadt Montreal zurückgezogen. Dort entstanden die kritischen Songs des Albums.
"Es war Winter und bitterkalt und ich war einsam. Da ich das Apartment kaum verlassen konnte, begann ich, zu kochen und viel zu lesen - zunächst Gedichte, um mich auf das Schreiben vorzubereiten. Dann kamen politische Bücher dazu. Ich habe mich regelrecht auf die Materie gestürzt und nach einer Weile erkannt, dass es so viele Möglichkeiten gibt, aktiv zu werden und die Dinge zu verbessern."
Schwierige Themen in geschützter Wohlfühlzone
"Ich kann ihn sehen diesen Ort, wo wir wieder zueinanderfinden. Und ich würde alles dafür geben", heißt es weiter im Song "Utopia". Stelmanis las Bücher von Globalisierungskritikern wie Naomi Klein und David Harvey, reiste für Feldforschungen nach Mexiko und schrieb dort die zweite Hälfte des Albums. So kam sie von der Dystopie zur Utopie.
"Ich habe natürlich keine Lösung für all die Probleme gefunden, aber ich habe für mich einen Weg entdeckt, der dorthin führen könnte. Ein erster Schritt ist, die Welt als Einheit zu begreifen und die Taten danach auszurichten. Man kann die Probleme nicht mehr als Nationalstaat lösen, sondern nur als Weltgemeinschaft. Das wissen wir schon lange, aber es zeigt sich heute mehr denn je. Eine Bewegung wie Occupy darf sich nicht mehr nur auf Amerika beschränken, sie muss global agieren."
Hört sich nach Proseminar auf der Uni an, ist es aber nicht. Stelmanis verwendet kein einziges Mal Begriffe wie Globalisierung oder Populismus. Sie bricht ihre Texte auf eine persönliche Ebene herunter, die sich auch als Songs über romantische Beziehungen lesen lassen.
Die Themen auf "Future Politics" sind schwer, die Musik ist es nicht. Wo man Zorn, Wut oder zumindest etwas Pathos erwarten würde, dominiert der entrückte, etwas einlullende Sound des Dream-Pop. Mit ihrer in der Oper geschulten Stimme geriert sich Stelmanis als holistisches Geisterwesen, das zwischen Licht und Schatten schwebt.
Die Idee ist zwar originell, weil sich so schwierige Themen in unsere geschützten Wohlfühlzonen einschmuggeln lassen. Wäre aber nicht der Titel des Albums, müsste man schon ganz genau hinhören, damit man erkennt, dass es sich hier um ein politisches Manifest handelt. Aber vielleicht ist dieser sanfte Weg ja genau der richtige im Zeitalter der Schreihälse in Pop und Politik.