Lennart Pyritz: Tausende Koalas sollen bereits durch Rauch und Flammen verendet sein; allein im Bundesstaat New South Wales sind laut University of Sydney insgesamt eine halbe Milliarde Säugetiere, Vögel und Reptilien ums Leben gekommen: Seit Tagen kursieren Zahlen, wie viele Tiere bereits durch die Brände in Australien gestorben sind. Es wurde sogar schon vor einem Aussterben der Koalas gewarnt. Immer wieder gibt es aber auch Kritik an solchen Schätzungen und Szenarien. Wie sich die Brände auf die australische Tierwelt auswirken – und welche Daten für eine zuverlässige Einschätzung nötig sind – darüber habe ich vor der Sendung am Telefon mit Anke Frank gesprochen. Sie stammt aus Deutschland und arbeitet als Ökologin an der University of Sydney. Ich habe sie zuerst gefragt, wie die Wissenschaftsgemeinde in Australien auf die zoologischen Horrormeldungen reagiert?
Anke Frank: Es ist ein riesengroßes Desaster einfach. Es ist was, was in seinen Ausmaßen noch überhaupt nicht abzuschätzen ist, aber es ist auf jeden Fall zutiefst beunruhigend, und es ist auf jeden Fall sehr, sehr negativ. Wir befinden uns in einem Land, was schon die meisten Säugetiere irgendwo auf der Welt verloren hat, also die höchste Aussterberate überhaupt aufweist, und das wird sich mit Sicherheit aufgrund der Feuer auch noch mal verschlechtern.
Pyritz: Wie schätzen Sie denn aktuelle Berichte und Einschätzungen zum Massensterben oder sogar Aussterben der australischen Tiere durch die Brände ein? Da ist ja auch gerade eine Untersuchung oder eine Schätzung von der University of Sidney durch die Medien gegangen, der zufolge betrifft das eine halbe Milliarde Tiere.
Frank: Da geht es um eine Studie, die der Herr Professor Chris Dickman – das war der Betreuer meiner Doktorarbeit – mitveröffentlicht hat. Vermutlich ist es noch eine sehr, sehr starke Unterschätzung. Die Zahlen basieren ja auf einem Report, der schon relativ alt ist, wo es um Abholzung eigentlich ging, also die Effekte, die Abholzung halt auf die Säugetiere, Vögel und Reptilien hat, hier auch nur in dem Bundesstaat Neusüdwales, und daraufhin wurden halt Schätzungen berechnet. Diese Schätzungen waren auch schon relativ konservativ, sag ich mal, die haben schon die geringsten Werte da angenommen, um das halt mal abzuschätzen, und diese Zahlen wurden jetzt für die Feuer genommen. Das Problem ist natürlich, dass Feuer sehr viel schlimmer sind als nur eine reine Abholzung, weil bei einem extrem starken Feuer – die Feuer sind ja im Moment auch so, dass die aufgrund der wirklich langen Trockenheit und der fehlenden Regenfälle und extremen Temperaturen –, dass die halt einfach sehr, sehr heiß gebrannt haben. Und dass wir auch gar nicht wissen, was das für die Tiere, die sich normalerweise im Boden verstecken können vor den Feuern, bedeutet hat, und was das aber auch für die Samen im Boden zum Beispiel bedeutet, ob die jetzt überhaupt noch keimungsfähig sind oder nicht, das wissen wir überhaupt nicht.
"Ein Problem, dass viele Studien auch nur in Nationalparks stattfinden"
Pyritz: Welche Daten sind denn überhaupt notwendig, um die Entwicklung einer Population und auch deren Reaktion auf so ein Brandereignis, wie es derzeit in Australien stattfindet, zuverlässig einzuschätzen? Also welche Daten braucht man, um sagen zu können, der Art geht es schlecht, die hat sich so und so entwickelt oder sie steht sogar kurz vor dem Aussterben?
Frank: Am besten sind natürlich Langzeitdaten, davon haben wir sehr, sehr wenige. 2017 gab es generell keine Fördergelder mehr für Langzeitstudien in Australien, das hat die Regierung sozusagen gecancelt, und das ist ein ganz, ganz großes Problem. Wir brauchen eigentlich diese Langzeitstudien, um zu sagen, was mit Population langfristig passiert, und wir brauchen standardisierte Studien und Studien, die nicht nur in Nationalparks, sondern auch in anderen Gebieten stattfinden. Weltweit ist das leider ein Problem, dass viele Studien auch nur in Nationalparks stattfinden. Wir brauchen halt vor allem Studien, die regelmäßig durchgeführt werden. Mein größter Wunsch jetzt für nach den Feuern wäre, dass man diese Gebiete auch nicht aufgibt, die jetzt da verbrannt sind, sondern dass man wirklich mal ganz genau schaut, was passiert da jetzt, und zwar in Form eines Gradienten. Was passiert mitten drin in den Gebieten, die weit weg noch von nicht verbrannten Flächen sind, was passiert an Randflächen und was passiert an vielleicht Wäldern, die es noch irgendwie am Rande geschafft haben, den Flammen zu entkommen. Das, denke ich, wären jetzt ganz, ganz wichtige Forschungen, die man betreiben sollte.
Pyritz: Wenn wir noch mal einen Schritt zurückschauen – es wurde einerseits über das Massensterben von Individuen gesprochen, aber eben auch vor dem Aussterben von Spezies gewarnt: Gilt eine Tierart im Freiland eigentlich erst als ausgestorben, wenn das letzte Individuum dieser Art gestorben ist, oder gibt es da bereits wesentlich früher sozusagen Ereignisse, die im Prinzip bedeuten, dass sich eine Art im Freiland nicht mehr erholen kann?
Frank: Ja, das gibt es, das ist von Art zu Art verschieden. Es gibt also verschiedene Definitionen von ausgestorben: Es gibt einmal funktionell ausgestorben, das heißt, die Art kann ihre Rolle im Ökosystem nicht mehr erfüllen, weil es einfach zu wenige davon gibt. Und dann gibt es halt die Kategorie "ausgestorben" nach den Roten Listen sozusagen, auch den Roten Listen der IUCN, und das würde dann bedeuten, dass das Tier tatsächlich komplett in der Wildnis ausgestorben ist. Und dann gibt es noch mal eine weitere Kategorie, dass Tiere auch in der Gefangenschaft ausgestorben sind.
Ökosystementwicklung schwer vorauszusagen
Pyritz: Angenommen, die derzeitigen Brände führen tatsächlich dazu, dass Arten wie Koalas aussterben oder auch Insektenarten oder Vogelspezies, die ja wahrscheinlich nicht so im Fokus der Öffentlichkeit stehen: Wie reagiert ein Ökosystem auf so eine Lücke, die durch so ein Ereignis wie einen Brand entstehen kann?
Frank: Das ist sehr, sehr schwer vorherzusagen, da fehlen uns noch ganz, ganz viele Antworten. Und das ist auch wirklich das, was das Ganze so ein bisschen gruselig macht oder besonders gruselig macht, weil wir wissen eigentlich über die meisten Arten auf dieser Welt und auch nicht über die in Australien, was für eine Rolle die überhaupt erfüllen im Ökosystem. Den Koala kennen wir jetzt sogar ziemlich gut, aber bei vielen, vielen Arten von denen wissen wir überhaupt nicht, was sie bedeuten. Es gibt eine kleinere Känguruhart, die jetzt vermutlich mit den Feuern bereits verschwunden ist – das Long-footed Potoroo heißt das hier auf Englisch –, und diese Arten sind ganz, ganz, ganz wichtig, um Pilzsporen zu verbreiten, und diese Pilzsporen sind wichtig, damit manche Pflanzenarten überhaupt keimen können. Und wenn diese Tiere nicht mehr da sind, um diese Pilzsporen zu verbreiten, dann fehlen uns auch diese Pflanzenarten. Dass wir so etwas wissen, das ist ganz, ganz selten für eine Tierart. Australien hat über 350 Säugetierarten, und die meisten Leute – nicht nur außerhalb von Australien – kennen vermutlich gerade mal ein, zwei Handvoll von diesen Arten.
Pyritz: Vielleicht zum Schluss, Sie haben das eben schon angedeutet, was aus wissenschaftlicher Sicht wünschenswert wäre: Welche Daten sollten jetzt aufgenommen werden, wie könnte die Wiederbesiedlung dieser verbrannten Ökosysteme verfolgt werden, um da möglichst viele wissenschaftlich sinnvoll und nützliche Erkenntnisse draus zu gewinnen?
Frank: Wir müssen einfach viel mehr über diese Interaktionen wissen, das heißt, wir brauchen einfach Leute aus verschiedenen Fachbereichen, die da zusammenarbeiten. Wir brauchen Experten, die sich mit Vegetation auskennen, wir brauchen Experten, die sich mit Pilzen auskennen, und wir brauchen Experten, die sich mit den verschiedenen Tiergruppen irgendwie auskennen, damit wir wissen, was da genau passiert. Es reicht eigentlich nicht, nur einfach zu wissen, dass es die Tiere dort noch gibt, sondern wir müssen auch ganz viel über die ökologische Rolle dieser Tiere erfahren. Das heißt, wir brauchen Verhaltensdaten zusätzlich zu nur Daten, ob das Tier dort existiert oder nicht, um einen Einblick zu bekommen, was da jetzt passiert und wie und ob Wiederbelebung dieser Systeme überhaupt möglich ist. Was man sich vorstellen kann, ist, dass jetzt viele Tiere halt auch in das vielleicht noch intakte Habitat, da, wo es das da noch gegeben hat, fliehen und dass sie ja nicht einfach wieder, wenn das Feuer sozusagen vorbei ist, da wieder zurück hin können, weil es ist ja einfach keine Nahrung mehr da, es ist kein Schutz mehr da, es ist ja einfach alles weg. Und das kann man sich jetzt eigentlich vorstellen wie eine riesengroße Migrationswelle, die jetzt auch noch mal einen besonderen Stress sozusagen für die nicht verbrannten Flächen drumherum bedeutet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.