24. Dezember 2013. Während die übrige Welt von weißen Weihnachten träumt tobt im Südpolarmeer ein gewaltiger Schneesturm. Direkt über der "Academic Shokalskiy". An Bord des Schiffes sind 74 Passagiere: Wissenschaftler, Besatzungsmitglieder und Touristen. Es ist bitterkalt, die Sicht so schlecht, dass man die Hand vor Augen nicht sehen kann. Die "Shokalskiy", ein für kommerzielle Polarfahrten umgebauter, russischer Expeditionsfrachter, ist auf dem Rückweg aus der Antarktis. Doch als das Wetter umschlägt gerät das Schiff in Packeis und bleibt 185 Kilometer vor der Küste stecken. Die "Academic Shokalskiy" kann nicht mehr vor und nicht mehr zurück.
"Es war frustrierend, weil wir gerade mit allen wissenschaftlichen Messungen fertig waren. Es war unser letzter Tag in den Gewässern vor der Antarktis. Wir waren durch treibendes Eis hindurch unterwegs hinaus auf das offene Südpolarmeer. Gerade hatten wir Kurs auf Australien genommen. Aber als wir nur noch etwa zwei Seemeilen vom Rand der Eisschollen entfernt waren, saßen wir auf einmal fest."
Expeditionsleiter Chris Turney setzte einen Notruf ab. Eine beispiellose Rettungsaktion lief an. Die Touristen bekamen mehr Abenteuer als sie gebucht hatten und Turney sorgte dafür, dass die ganze Welt das Warten auf die Kavallerie und den Alltag an Bord der "Academic Shokalskiy" über das Internet mitverfolgen konnte.
"Es war großartig, dass wir unseren Familien zuhause persönlich sagen konnten, dass es uns gut geht. Die Leute waren sogar an unserer wissenschaftlichen Arbeit interessiert. Es war unglaublich. Wir saßen hier zwischen dem 66. und 67. südlichen Breitengrad und konnten mit jedem in der Welt reden."
Die Expedition war unterwegs auf den Spuren des legendären, australischen Polar-Pioniers Douglas Mawson, der 1911 selbst mit seiner Expedition in der Antarktis festsaß. Drei Jahre lang waren Mawson und seine Männer völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Die Passagiere der gestrandeten Shokalskiy aber twitterten Weihnachtsgrüße, sendeten online Videotagebücher und feierten Neujahr mit einem selbstgedichteten Lied auf YouTube.
Eine Havarie als Medienereignis
Jeder Bergungsversuch war in den Abend-Nachrichten. Auf einmal wollte man überall auf der Welt wissen, was in der Antarktis passierte. Erst schickten die Australier einen Eisbrecher, dann die USA. Schließlich wurden die Touristen und Wissenschaftler per Helikopter von der "Academic Shokalskiy" auf einen chinesischen Frachter und dann in Sicherheit gebracht. Bevor das Packeis auch noch das Schiff, das zur Rettung kam, einschloss. Die Besatzungen blieben zurück, aber nach neun Tagen im Eis hatten die Wissenschaftler und Antarktis-Touristen wieder mehr oder weniger festen Boden unter den Füßen.
Mit 14 Millionen Quadratkilometern ist die Antarktis die größte Gefriertruhe der Welt. Hier sitzen alle in einem Boot "oder besser: in einem Eisbrecher", witzelt der australische Geologe Adam Todd. Ob Abenteurer, Polar- und Klimaforscher, Touristen oder die Besatzungen von Versorgungstransporten, wer in Schwierigkeiten gerät, dem wird selbstverständlich geholfen. Anderswo ist vielleicht Eiszeit zwischen den Russen und den Amerikanern, den Briten und Franzosen, zwischen China und dem Rest der Welt. Adam Todd aber weiß aus eigener Erfahrung: nicht in der Antarktis.
"Die Antarktis ist wirklich international. Selbst wenn sich Länder in den Haaren liegen, im Eis ist das alles vergessen. Wir helfen uns gegenseitig, und wer in Not gerät, den retten wir. Die politischen Meinungsverschiedenheiten gibt es in der Antarktis nicht."
Erste Rettung von Touristen aus Notlage in der Antarktis
Koordiniert werden Rettungsaktionen in der Antarktis von der australischen Behörde für Seesicherheit. Sie hat ihren Sitz in Hobart, der Hauptstadt Tasmaniens, dem Zentrum der australischen Polarforschung. Michael Kinley und Jan Leiser waren dafür verantwortlich, die Touristen von der festgefrorenen "Academic Shokalskiy" zu evakuieren. Moderne Kommunikationsmittel machten ihren Job einfacher, aber für beide war es eine Premiere. Zum ersten Mal mussten Touristen aus einer Notlage in der Antarktis gerettet werden. Michael Kinley und Jan Leiser aber sind sicher, dass es nicht die Letzten waren.
"Alle Länder, die in der Antarktis forschen, stellen fest, dass immer mehr Schiffe mit Touristen im Südpolarmeer unterwegs sind. Die Gegend ist ein so sensibles Ökosystem, dass sie kein Massen-Ausflugsziel werden darf."
"Die Antarktis ist so abgelegen, jede Notsituation ist eine ernste Sache. Das Wetter ist unberechenbar, es kann von einem Moment auf den anderen umschlagen. Und gibt es viel Schnee, dann wird der Rumpf eines Schiffs wie von Klebstoff festgehalten."
Ausgangspunkt für viele Antarktis-Expeditionen: Hobart
Neben der Behörde für Seesicherheit finden sich in Hobart fast zwei Dutzend wissenschaftliche Institute und Einrichtungen, die sich mit der Antarktis beschäftigen oder dort forschen. Hobart ist nicht das Ende der Welt, aber man kann es von dort aus sehen. Und spüren. Der eisige Nordwestwind, der einem ins Gesicht bläst, kommt direkt aus dem Südpolarmeer.
Wenn sie nicht gerade auf Forschungsfahrt ist, dann liegt unten am Pier die "Aurora Australis", das 4.000 Tonnen-Flaggschiff der australischen Antarktisabteilung. Ein 95 Meter langer, leuchtend orange gestrichener Eisbrecher, halb Versorgungsschiff, halb schwimmendes Hi-Tech-Labor. Ein paar Schritte weiter schickt Hobart's Audio-Stadtführer Besucher zu den lebensgroßen Bronze-Statuen australischer Polar-Pioniere.
Die Antarktis ist in Hobart immer und überall, sogar an der Universität. Der Meeresbiologe Andrew McMinn leitet dort einen weltweit einmaligen Studiengang: das Fach "Antarktis", in dem man sogar promovieren kann. Von seinen Studenten wird ihr Ausbilder liebevoll "Professor Pol" genannt.
"Die Antarktis ist ein fantastischer Ort. Bevor man nicht selbst einmal dort gewesen ist, kann man nur schwer verstehen wie inspirierend diese Landschaft ist und welche Leidenschaft sie hervorruft. Ich war schon 14 Mal dort. Und ob Klimawandel, Fischbestände oder die CO2-Belastung der Meere: Die Antarktis ist auch ein Ort, an dem die Wissenschaft - global gesehen - etwas bewirken kann. Dort sind bedeutende Forschungsprojekte im Gang, und man hat die Genugtuung etwas Wichtiges zu tun."
Antarktisvertrag regelt die friedliche Nutzung des Kontinents
Ein Kontinent, der menschenleer ist, unwirtlich und lebensfeindlich, ohne Urbevölkerung und an vorderster Front in der Diskussion um den Klimawandel: Die Antarktis ist so einmalig wie das Dokument, das eine friedliche, internationale Nutzung des Kontinents regelt. Im Jahr 1961 trat der Antarktisvertrag in Kraft. Das Abkommen bestimmt, dass die Antarktis weder wirtschaftlich noch militärisch genutzt werden darf, sondern der Wissenschaft vorbehalten bleiben soll. Mit 42 Prozent der Gesamtfläche beansprucht Australien das größte Gebiet auf dem Kontinent. Für "Professor Pol", Andrew McMinn, ist das nicht nur ein Privileg, sondern auch eine große Verantwortung.
"Rund zehn Nationen beanspruchen Gebiete in der Antarktis - aber im Vertrag steht, dass kein Land diese Ansprüche geltend machen kann. Sie sind, sozusagen, eingefroren. Australien liegt, rein geografisch, der Antarktis am nächsten. Deshalb haben wir das größte Gebiet, das wir mit anderen Ländern zu Forschungszwecken teilen. Guter Wille ist alles. Denn eine Antarktis-Polizei gibt es nicht."
Vorlesungssaal 3 an der Universität Tasmanien in Hobart. Die Vorhänge sind zugezogen, der Diaprojektor surrt. Die etwa 60 Studenten im Antarktis-Grundkurs lernen über die Charakteristiken von Pack- und Schelfeis. Ihre Dozenten sind keine Theoretiker, sondern haben langjährige Antarktiserfahrung: Ozeanografen, Wetterexperten, Geologen und Gletscherkundler, Zoologen, Meeresbiologen oder Klimaforscher wie Martin Riddle. Er untersucht seit Jahrzehnten wie sehr der Mensch seine Umwelt beeinflusst. "Die Antarktis", sagt Riddle, "ist wie ein Kanarienvogel in einer Kohlemine". Ein natürliches Frühwarnsystem.
"Dieser Teil der Welt reagiert hochsensibel auf Klimaveränderungen und die Prozesse, die sie verursachen. In der Antarktis sind die Folgen eines Klimawandels früher zu beobachten als sonst wo auf der Erde. Und gleichzeitig sind dort - wie in einem Tiefkühl-Archiv - längst vergangene Klimaperioden in den Eismassen konserviert."
Chinas Plan von einer Basis auf dem höchsten Punkt
Eine Flugverbindung mit Landebahn im Eis während der Sommermonate, vier Außenposten und ein eigener Eisbrecher: Das Antarktis-Programm kostet Australien jährlich über 100 Millionen Euro. Niemand aber gibt mehr Geld in der Antarktis aus als die Chinesen. China plant eine neue Basis, bereits die dritte. Nicht in einer Bucht am Rand des Südpolarmeeres, sondern mitten im Eis: 2000 Kilometer landeinwärts an einer Stelle, die "Dom A" genannt wird. Mit 4.200 Metern über dem Meeresspiegel ist "Dom A" die höchste Erhebung in der Antarktis. Unablässige Schneestürme, Temperaturen bis minus 40 Grad. Jack Holt kennt die die Gegend gut. Der US-Gletscherkundler nennt sie "die weiße Hölle." Dass die Chinesen dort eine Basis errichten wollen, hat für Holt nicht das Geringste mit Wissenschaft zu tun, sondern nur mit Politik.
"Es ist verlockend, eine Basis auf dem höchsten und kältesten Punkt der Antarktis zu errichten. Denn das ist ein Symbol, ein Signal an alle übrigen Nationen, die hier sind. Den Chinesen geht es nur darum, uns Amerikanern und anderen Nationen zu zeigen: "Seht her, wir sind da, wo es am schwierigsten ist. Wir haben es geschafft."
Höflichkeitsbesuch einer chinesischen Expedition in Casey Station, der Basis der Australier. Gefilmt von Eddie Albert, dem Stationsarzt. Besuch ist nichts Ungewöhnliches in Casey, denn Kooperation ist Tradition in der Antarktis. Selbst während des Kalten Krieges haben Russen und Amerikaner in der Antarktis zusammengearbeitet und Forschungsergebnisse ausgetauscht. Die Chinesen aber hält Mediziner Eddie Albert für Geheimniskrämer.
Das gebrochene Englisch sei nur Fassade, die Freundlichkeit aufgesetzt. Arzt Eddie Albert spricht aus, was viele der Australier in der Antarktis nur denken. Offiziell sucht jedes Land dort nach dem Heiligen Gral, einem eine Million Jahre alten Eisbohrkern, der helfen soll die Geheimnisse der Klimaforschung zu enträtseln. Albert aber glaubt, dass China - und andere Nationen - versuchen den Australiern, die seit mehr als 100 Jahren in der Antarktis forschen, einen Eisbären aufzubinden.
"Was machen die Amerikaner hier, und warum bauen Länder wie Italien, Frankreich und China für Abermillionen neue Antarktisstationen? Bestimmt nicht, um noch mehr Forschung zu betreiben. Jeder, der sich in der Antarktis auch nur ein wenig auskennt, vermutet, dass es ihnen nur um Rohstoffe geht."
Verdeckte Suche nach Rohstoffen
45 Milliarden Barrel Öl und gigantische Mengen Erdgas sollen unter der Eisschicht der Antarktis liegen, dazu enorme Vorkommen an Eisenerz, Kohle, Gold und Platin. Mehr als 100 Jahre nach dem Wettlauf zum Südpol gibt es dort ein neues Rennen: Wer kommt als erster an die Bodenschätze heran? Als der Antarktisvertrag 1961 ausgehandelt wurde, waren es die Australier, die durchsetzten, dass kein Land dort Rohstoffe fördern dürfe. Der Vater von Klimaforscher Martin Riddle gehörte damals zur australischen Delegation. "Mein alter Herr sagte immer: Die Antarktis schützt sich selbst", erinnert sich Riddle. Kein Ort der Welt ist abgeschiedener und unzugänglicher. Für Riddle aber ist das alles Schnee von gestern. Statt Forscher und Touristen müssen das nächste Mal vielleicht schon Ölbohrer oder Gassucher aus dem Eis gerettet werden.
"Wer weiß was passiert, wenn künftig der Druck immer mehr Öl zu fördern auf die Ölreserven noch größer wird? Als ich vor 20 Jahren ins australische Antarktis-Programm kam, scherzte mein Chef, dass es sich erst lohnen würde Öl in der Antarktis zu fördern, wenn ein Barrel 65 US-Dollar kostet. Er fand das urkomisch, denn er dachte nicht im Traum daran, dass der Preis so hochgehen würde. Aber heute ist Rohöl um vieles teurer."
Zurück im Vorlesungssaal 3 der Universität Tasmanien in Hobart. Die Studenten des Antarktis-Grundkurses pauken Gletscherkunde. Wie die gigantischen Eismassen entstanden sind und warum sie zusehends verschwinden. Die Eisschmelze in der Arktis hat in der nördlichen Hemisphäre auch zu politischem Tauwetter geführt. Russland, Kanada und die USA reden miteinander über ihre Grenzen. Am Südpol legt der Antarktisvertrag die Jagd auf Rohstoffe bisher auf Eis. Aber wie lange noch? Auch Professor Pol, Andrew McMinn, hat darauf keine eindeutige Antwort. Australien jedenfalls will keinen Kalten Krieg in der Antarktis. Auch wenn der Einfluss der ältesten Polarnation auf dem weißen Kontinent langsam dahinschmilzt.
"Wir konzentrieren uns auf die Forschung. So steht es im Antarktisvertrag, und nur so kann Australien seinen Gebietsanspruch in der Antarktis auch rechtfertigen. Der Kontinent soll ein Ort für die Wissenschaft bleiben, kein Schlachtfeld für Öl- oder Gasvorkommen. Aber es wird schwer sein das Förderverbot aufrechtzuerhalten. Wir werden unser Bestes tun um die Antarktis zu schützen. Aber vieles wird sich dort ändern. Das ist nun einmal die Realität."