Die Sicherheitslage ist laut Auswärtigem Amt regional stark unterschiedlich, aber "weiterhin volatil". Die Zahl der zivilen Opfer liege auf Rekordniveau. Das staatliche Gewaltmonopol werde von Aufständischen und Milizen "in vielen Landesteilen erheblich herausgefordert", heißt es in dem Papier. "Die größte Bedrohung für die Bürger Afghanistans geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Die Zentralregierung hat auf viele dieser Personen kaum Einfluss und kann sie nur begrenzt kontrollieren bzw. ihre Taten untersuchen oder verurteilen."
Die Regierung sei sich ihrer Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung zwar bewusst, "allerdings nicht immer in der Lage, diese effektiv umzusetzen". Die Zahl ziviler Opfer durch Anschläge und Kämpfe habe mit knapp 1.600 allein im ersten Halbjahr 2015 den höchsten Wert seit Sturz der Taliban 2001 erreicht. Das Auswärtige Amt wollte den Bericht auf Anfrage von NDR Info mit Hinweis auf die Vertraulichkeit des Papiers nicht kommentieren.
Frauen und Kinder leiden besonders
Besonders negativ wird in der Analyse die Lage von Frauen und Kindern beurteilt. In einem langen Kapitel über "asylrelevante Tatsachen" wird unter anderem festgestellt, die Rechte von Frauen seien trotz erheblicher Verbesserungen seit 2001 schwer zu realisieren. "Traditionell diskriminierende Praktiken und Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter. (...) Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet." Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen fänden vor allem in der Familie statt, aber auch durch Kollegen am Arbeitsplatz, etwa gegen Polizistinnen. "Vor allem in den Rängen von Armee und Polizei, aber nicht nur dort, ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in weiten Teilen Afghanistans nach wie vor ein großes Problem. (...) Eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt." Oft rekrutierten afghanische Sicherheitskräfte Minderjährige, "um sich an ihnen sexuell zu vergehen".
Bei der Strafverfolgung funktionieren laut der Analyse des Auswärtigen Amtes Verwaltung und Justiz nur eingeschränkt. "Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder –unbeteiligte und Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems." Die Regierungsführung sei "weiterhin mangelhaft" und die Entwicklung Afghanistans durch die weit verbreitete Korruption gehemmt.
Zweifel an der Position des Innenministers kommen auf
Mit diesem über weite Strecken negativen Bild nährt der 28-seitige Bericht des Auswärtigen Amtes für deutsche Gerichte und Behörden Zweifel an der Position von Innenminister de Maizière, der mehr Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge für nötig und möglich hält. "Deutsche Soldaten und Polizisten tragen dazu bei, Afghanistan sicherer zu machen", sagte er Ende Oktober. Es sei viel Entwicklungshilfe nach Afghanistan geflossen, da kann man erwarten, dass die Afghanen in Ihrem Land bleiben."
Afghanische Flüchtlinge wie Abdullah Arian können diese Argumentation verstehen, aber nicht teilen. Der 26-Jährige hat lange als Bundeswehrdolmetscher in Afghanistan gearbeitet, bevor er vor zwei Jahren vor den Taliban in die Nähe von München floh. "Die Deutschen haben viel Geld in Afghanistan ausgegeben und hatten viele Todesopfer", sagt er. "Sie versuchten der afghanischen Bevölkerung zu helfen, sie wollten Frieden und Entwicklung bringen. Aber leider war die Zeit zu kurz, der afghanischen Regierung und der afghanischen Gesellschaft wirklich zu helfen."