Ein Samstagnachmittag in der libanesischen Hafenstadt Tripoli: Bis auf ein paar Fischer, Straßenverkäufer und Teenager auf Motorrollern ist es ungewohnt leer an der Corniche - wie die Einwohner Tripolis ihre Hafenpromenade am Mittelmeer nennen. In einem der wenigen geöffneten Straßencafés sitzt der 24-jährige Isa. Seine Augen wandern die Straße hinauf und hinunter.
"Die Stadt ist leer. Wo sind alle hin? Normalerweise kommen viele, fahren in ihren Autos herum, die Cafés sind immer geöffnet. Jetzt ist hier kaum jemand mehr. Tripoli wird zu einer Geisterstadt."
Das ist nicht nur Isas subjektives Empfinden, tatsächlich haben in den letzten Monaten tausende Libanesen ihre Heimat verlassen. Die meisten von ihnen kommen aus dem von Konflikten und Armut gezeichneten Tripoli. Zusammen mit syrischen Flüchtlingen machen sie sich auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer nach Europa. Auch Isa will weg. Weg von den Straßenkämpfen und Terroranschlägen, die seine Stadt noch bis Anfang des Jahres erschüttert und Familie, Freunde und Bekannte getötet haben.
"Meine Angst ist größer geworden. Wenn ich auf die Straße gehe, schlägt mein Herz schneller. Vielleicht sterbe ich gleich bei einer Explosion oder einer Auseinandersetzung in meinem Viertel. Ich würde lieber auf dem Meer sterben als hier in meinem Land zugrunde zu gehen."
In Isas Viertel tobte ein Syrienkrieg in Miniaturformat: Dort bekämpften sich libanesische Alawiten, die aufseiten des Assad-Regimes waren, und Sunniten, die die syrische Opposition unterstützt haben. Der Syrienkrieg und die syrische Flüchtlingskrise sind deshalb auch in erster Linie für die aktuelle Auswanderungsbewegung verantwortlich, meint Lea Baroudi. Sie ist Gründerin der Organisation "March" und arbeitet mit Jugendlichen in den Problembezirken von Tripolis:
"Die Arbeitslosenquote dort liegt bei rund 65 Prozent. Das Problem ist der syrische Flüchtlingszustrom. Arbeitgeber ziehen es aus Kostengründen vor, die ohnehin wenigen Jobs an Syrer zu vergeben.
Viele verließen in den 80er-Jahre den Libanon
Armut und Perspektivlosigkeit treibt vor allem junge Männer und Familien an aus dem Libanon auszuwandern. Die Sunniten unter ihnen nennen es "Hidschra". Der Begriff steht ursprünglich für die Auswanderung des Propheten Mohammad aus Mekka nach Medina.
Die moderne libanesische Geschichte ist von einer bedeutenden Auswanderer-Kultur geprägt. Seit über einem Jahrhundert emigrieren Libanesen meist aus sozioökonomischen Gründen. Ihre Ziele: Europa, vor allem aber Süd- und Nordamerika sowie Australien. Einschneidend für den Libanon war die Massen-Auswanderung nach Ausbruch des libanesischen Bürgerkrieges vor 40 Jahren. Knapp eine Million Libanesen flohen aus ihrer Heimat und lieferten das Beispiel für diejenigen Auswanderer, die sich heute auf den Weg machen, ist sich der Sozialwissenschaftler Samer Annous von der Balamand-Universität in Tripoli sicher:
"In den 80ern gab es eine große Auswanderungswelle, vorrangig aus Tripoli. Die Menschen heute begeben sich auf die gleichen Routen ihrer Cousins und Onkels, die damals nach Schweden, Dänemark und Deutschland auswanderten."
Weltweites Netzwerk
Durch die Migration des vergangenen Jahrhunderts entstand ein weltweites Netzwerk, auf das Libanesen in Zeiten der Krise zurückgreifen können. Die libanesische Diaspora gehört wahrscheinlich zu den größten der Welt: Viereinhalb Millionen Libanesen leben derzeit im Libanon, über 13 Millionen dagegen außerhalb. Und die Zahl der Auslands-Libanesen ist seit dem Ende des Bürgerkrieges weiter gewachsen.
"Wir dachten, dass in der Nachkriegszeit der Wiederaufbau und wirtschaftliche Aufschwung an erster Stelle stehen würden. Doch anscheinend haben wir nichts aus dem Krieg gelernt. Denn wieder wandern Menschen aufgrund der Spannungen und der Sicherheitslage aus. Dieses Land strahlt immer wieder aufs Neue Hoffnungslosigkeit für die Zukunft aus."
Die Hoffnungslosigkeit im Libanon ist ein Produkt der Politik. Es ist ein offenes Geheimnis, dass in dem komplexen Gebilde eines nach religiöser Zugehörigkeit ausgerichteten Parteiensystems Korruption und Eigeninteressen ausschlaggebend sind. Die Wut auf korrupte Politbosse hat sich diesen Sommer entladen, als Zehntausende Libanesen in Beirut gegen ihre Regierung auf die Straße gingen. Sie demonstrierten gegen den fehlenden Willen und die Unfähigkeit ihrer politischen Eliten, Probleme wie die anhaltende Müllkrise oder den Wasser- und Elektrizitätsmangel zu lösen.
"Als diese Bewegung begann, wollten die Libanesen aus Tripoli mitdemonstrieren. Doch nach einer Weile sagten sie: Die Demonstranten auf den Straßen reden nicht mal über uns. Selbst wenn sie etwas Positives erreichen sollten, wird das unser Leben nicht beeinflussen. Deshalb sehen sich die Tripoli-Libanesen heute nicht mehr als Teil der Bewegung."
Und so hält die Auswanderungswelle aus Tripoli an. Für den Augenblick ist der Korridor über das Mittelmeer jetzt offen. Die Armen des Landes wollen keinesfalls warten, bis er sich wieder schließt.