Das Sammeltaxi hat auf der Fahrt in den Nordwesten Kasachstans die Erdölstadt Atyrau am Kaspischen Meer noch nicht ganz hinter sich gelassen, da fragt der junge Russe auf dem Rücksitz schon, was Europa über die Ukraine-Krise denkt:
Viktor Kusnjezóv ist 25, er arbeitet in Atyrau als Bauarbeiter und fährt für ein paar Tage nach Hause ins 500 Kilometer nördlich gelegene Uralsk. Seine Meinung zur Lage in der Ukraine ist klar:
"Putin ist ein toller Kerl. Er hat der Ukraine nichts getan. Die Ukraine hat es sich selbst angetan. Wenn Putin das gewollt hätte, wäre die Ukraine schon ausgelöscht. Dass Putin angeblich ein aggressiver Eindringling ist, dass denkt man in Deutschland nur, weil Amerika das so will."
In der Ukraine herrschten von den USA finanzierte Faschisten, erklärt Viktor im Brustton der Überzeugung.
"Die Regierung in Kiew kämpft gegen ihr eigenes Volk. Sie will ihm den Mund mit Patronen stopfen. Und Barack Obama, den sollte man wieder nach Afrika schicken, auf die Plantage, damit er dort weiter Zuckerrohr hackt."
Ölbohrtürme und Schafherden mit berittenen Hirten auf der einen Seite der Straße, rechter Hand stets das bewaldete Ufer des großen Flusses Ural: Die zentralasiatische Republik Kasachstan war einst Heimat nomadischer Steppenreiter, die in Jurten wohnten. Das muslimische Land liegt zwischen Russland und China, erstreckt sich zwischen dem Kaspischen Meer im Westen und dem Altai-Gebirge fast 3.000 Kilometer weiter östlich.
Während der VW Sharan mit sechs Passagieren durch die staubige Landschaft braust, wird im Gespräch mit Viktor Kusnjezóv klar, dass die Ukraine-Propaganda des russischen Fernsehens auch in Kasachstan durchschlagende Wirkung zeigt. Besonders im Norden des riesigen Landes: An der fast 7.500 Kilometer langen Grenze zum großen Nachbarn Russland stellen ethnische Russen wie Viktor 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung. Landesweit machen sie fast ein Viertel der nur 16 Millionen Kasachstaner aus.
Und damit hat Kasachstan seit der Annexion der Krim und den separatistischen Bestrebungen pro-russischer Kämpfer in der Ost-Ukraine ein Problem: Viele ethnische Kasachen fragen sich, ob der Norden ihres an Öl, Erdgas und Uran sehr reichen Landes als Nächstes an der Reihe ist. Fast alle Russen im Lande dagegen halten wie Viktor Kusnjezóv zu Putin. Seine Vorfahren seien Kosaken gewesen, erklärt der junge Mann mit den kurzen, dunkelblonden Haaren stolz. Die Familie wanderte schon zu Zarenzeiten ein, "um das russische Imperium zu schützen", wie er sagt.
Historischer Hintergrund
Die kasachischen Nomadenstämme suchten im 18. Jahrhundert aus Furcht vor dem mächtigen Nachbarn China Schutz beim russischen Zarenreich. In der Sowjetzeit kamen dann Techniker und Ingenieure aus Russland, bauten Eisenbahnlinien und Fabriken. Heute hängt die Wirtschaft des Landes vom Erdöl ab - frei laufende Tierherden gibt es in der Steppe aber immer noch. In Viktor Kusnjezóvs modischer Sonnenbrille aus chinesischer Fälscherfabrik spiegeln sich Trampeltiere, die der Fahrer ungeduldig von der Straße hupt.
Die Steppenkamele suchen in schlingerndem Trab das Weite, die Reste zottigen Winterfells an ihren grau-braunen Flanken schaukeln hin und her. Viktor Kusnjezóv auf dem Rücksitz beugt sich vor: Dass wir uns nicht missverstehen, meint er: Er will kein Referendum wie in der Ukraine und keinen Anschluss an Russland. Er fühlt sich als russischer Kasachstaner.
"Es gefällt mir, wenn der Wind den Staub der Dünen in den Himmel wirbelt. Wenn man nicht sprechen kann, weil man Sand im Mund hat. Wenn du in die Steppe fährst, dann riecht es nach Steppe. Für kein Gold der Welt lohnt es sich, von zu Hause wegzugehen."
Nach vier Stunden rasender Fahrt verabschiedet Viktor sich am Stadtrand von Oral. So heißt die Stadt erst seit der Unabhängigkeit von 1991, es ist ihr offizieller, kasachischer Name. Doch in ganz Kasachstan ist die 250.000-Einwohner-Stadt immer noch unter ihrem russischen Namen Uralsk bekannt. So hieß sie zu Sowjetzeiten. Die Stadt ist alt, wurde 1613 als Kosakensiedlung gegründet. Bis zur kasachisch-russischen Grenze sind es nur 30 Kilometer. Das war nie ein Grund zur Sorge, sagt Tamara Jeslyamova. Bis jetzt. Manche Russen in Uralsk warteten nur darauf, dass Putin sein Interesse als nächstes Kasachstan zuwendet.
"Ich würde das als Bürgerkrieg in den Köpfen bezeichnen: Ein sehr starker Widerspruch zwischen Menschen, die enorm konträre Ansichten vertreten. Ein trennender Graben verläuft zwischen denjenigen, die die Position Putins in Bezug auf die Ukraine unterstützen und denen, die es nicht fassen können, dass es im 21. Jahrhundert überhaupt möglich ist, dass ein Land in ein anderes eindringt."
Unterdrückte Konflikte
Tamara Jeslyamova, 51 Jahre alt, klein und rund, hohe Wangenknochen, schräge, schwarze Augen, ist ethnische Kasachin. Die Journalistin hat vor zwölf Jahren die "Uralskaya Nedelya" gegründet. Die "Uralsker Woche" ist das einzige Blatt weit und breit, das nicht als Sprachrohr des autokratisch herrschenden Präsidenten Nursultan Nasarbajew dient. Die "Uralskaya Nedelya" berichte sachlich über Russlands Vorgehen in der Ukraine, erzählt der kasachische Chefredakteur Lukpan Akhmedyarov. Eine russische Mitarbeiterin habe deswegen gekündigt. Sie war empört darüber, dass Putin im Blatt nicht gehuldigt wurde. Und auch die Leser reagierten extrem auf die Berichterstattung der "Uralsker Woche".
"Das ukrainische Thema war für uns alle wie ein Lackmustest. Niemand hatte erwartetet, dass die Ereignisse in einem Land, das noch nicht einmal eine gemeinsame Grenze mit Kasachstan hat, solch heißen Diskussionen in der kasachischen Gesellschaft auslösen könnte. Unsere Leser spalteten sich in zwei Lager: Das größere Lager, das Putin unterstützt, warf uns vor, wir hätten uns den Ukrainern verkauft, wir wären alle Faschisten und sonst was. Wir bekamen viele Anrufe von Lesern, die uns sagten, sie würden unsere Zeitung nicht mehr lesen wollen. Gott sei dank gab es aber auch Leser, die uns unterstützten und die verstanden, dass Putin die Ukraine und Russland in eine Katastrophe führt."
Diese so gegensätzliche Diskussion der russischen Politik habe in Kasachstan lang unterdrückte Konflikte zutage gefördert, sagt Herausgeberin Tamara Jeslyamova:
"Es ist ein Katalysator für gesellschaftliche Prozesse: Alles, was einst verborgen blieb, liegt nun blank, ist hinausgekrochen. Das schockiert, macht auch Angst. Die Ereignisse in der Ukraine haben uns gezeigt, was das eigentlich ist, Russlands imperiales Bewusstsein. Und die kasachische Zivilgesellschaft ist erst im Aufbau. Daher diese große Unruhe, die Angst um die Souveränität unseres Landes."
Der trennende Graben tut sich aber nicht nur zwischen Kasachen und Russen auf, er verläuft quer durch die Familien. Das wird in dem kleinen, dunklen Wohnzimmer von Julia Jumaschewa deutlich. Babuschka Julia ist 78, ihr Enkel Alexey ist zu Besuch aus dem russischen Saratow gekommen, wohin er vor einem Jahr gezogen ist. Julias Freundin Tamara Gorbunova, 69, ist auch da.
Sie alle sind Russen, sehen die Dinge aber sehr verschieden. Julia Jumaschewa:
"Der Westen braucht nicht zu fürchten, dass Kasachstan von Russland geschluckt wird. Kasachstan ist groß, und Präsident Nasarbajew ist einer, der seine eigene Linie verfolgt. Die Freundschaft zwischen Russland und Kasachstan bestand bereits vor den Zeiten meiner Großmutter. Also schon immer."
Babuschka Julias Freundin Tamara Gorbunova will vom Schönreden nichts hören. Sie hat ein paar Jahre in der Ukraine gelebt. Auch dort habe man den Konflikt zwischen Russen und Ukrainern zu lange unter den Teppich gekehrt, warnt sie.
"Ich stelle fest, dass in Kasachstan die russischsprachige Bevölkerung immer mehr schrumpft. Auch in meiner Heimatstadt Uralsk. Die Kasachen dominieren. Die Regierung kürzt die Russischstunden in den Schulen bis auf ein Minimum. Das ist eine Diskriminierung der russischen Bevölkerung."
Wie viele Russen Putins Angebot einer vereinfachten Einbürgerung schon wahrgenommen und den Norden Kasachstans verlassen haben, ist nicht bekannt. Aber es sind einige. Diejenigen, die hier bleiben wollen, meint Julias Enkel Alexey, sollten halt die Turksprache Kasachisch lernen, dass sei nun einmal die Landessprache.
"Ich denke, die Russen sind schlussendlich Nationalisten. Sie halten Russland für eine große Nation und haben Vorurteile gegenüber der kasachischen Sprache."
Regierung versucht Gesellschaft zusammenzuhalten
Die offizielle Regierungslinie lautet dagegen so, wie sie in diesem Werbefilm der kasachischen Botschaft in Deutschland verbreitet wird:
"Die Kasachen sind bekannt für ihre Gastfreundschaft und ihre Toleranz gegenüber anderen Völkern und Religionen. Über 100 ethnische Gruppen leben gemeinsam in Frieden und Einigkeit, darunter über 300.000 Deutschstämmige."
Yevgeniy Zhovtis ist einer der prominentesten Regimekritiker und Menschenrechtsaktivisten in Kasachstan. Seiner Meinung nach ist die Stabilität der multiethnischen Gesellschaft des Landes noch nicht gefährdet. Nicht, solange Nasarbajew, dessen integrative Funktion selbst seine Gegner nicht in Abrede stellen, mit eiserner Faust alles zusammen hält.
"Wenn Russland sich nicht einmischt, so wie es das auf der Krim und in der Ostukraine tut. Zurzeit hat die russische Minderheit keine politische Stimme. Es gibt kleine Gruppen, aber sie sind nicht sichtbar und nicht aktiv."
Und falls Putin sich doch einmischt?
"Um dieses Szenario zu verhindern, wurde die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet. Darum ist ihr Zweck ein politischer, auch wenn sie behaupten, es wäre nur eine Wirtschaftsunion."
Eurasische Wirtschaftsunion
Am 29. Mai 2014 haben Kasachstan, Russland und Weißrussland in der kasachischen Hauptstadt Astana das neue Bündnis unterzeichnet, mit dem die seit 2010 bestehende Zollunion vertieft wird. Offiziell soll die Eurasische Wirtschaftsunion nach dem Vorbild der EU nur den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen zwischen den Mitgliedsländern weiter vereinfachen. Doch für Nasarbajew sei ihr eigentlicher Zweck der Selbstschutz, betont Zhovtis.
"Er versucht so, die Souveränität des Landes zu bewahren. Denn natürlich macht sich der gesamte post-sowjetische Raum Sorgen wegen der Ukraine Krise und der Rolle, die Russland dabei spielt. Nicht nur die baltischen Staaten, die in der Europäischen Union sind, auch die zentralasiatischen Länder und der Kaukasus. Alle haben Angst und müssen sich entscheiden, wie sie darauf reagieren."
Eine knappe halbe Stunde außerhalb von Uralsk betreibt Jelena Ulanova die erste kommerzielle Baumschule in Kasachstan. Jelena Ulanova ist eine Matriarchin, Mutter von sieben Kindern, eine stattliche Blondine mit wachen, stark geschminkten blauen Augen. Wie viele Russen sah sie in Präsident Nasarbajew immer den Garanten dafür, dass sie in Kasachstan sicher leben und ihre Geschäfte betreiben kann.
Nasarbajew hat nach der Unabhängigkeit anders als seine zentralasiatischen Nachbarn die Russen nicht gezielt außer Landes getrieben und sich für den Erhalt des Russischen als Amtssprache eingesetzt. Doch der allmächtige Nasarbajew, offiziell "Führer der Nation" genannt, ist 74 Jahre alt und wird nicht ewig leben. Und Jelena Ulanova spürt, dass die Lage sich verändert.
Sie habe selbst unlängst in die Politik gehen wollen, erzählt die erfolgreiche Unternehmerin. Doch das Vorhaben sei daran gescheitert, dass sie kein Kasachisch spricht. Denn wer in den Staatsdienst will, muss gute Kenntnisse der Landessprache vorweisen. Für Angehörige der russischen Minderheit werde es immer schwieriger, klagt Jelena Ulanova.
"Aber viele Russen sprechen nicht darüber. Sie tragen diese Last mit sich herum, hegen ihren Groll. Sie sind beleidigt und sauer, weil sie keine Arbeit finden, weil sie kein Kasachisch sprechen. Ich kenne viele Leute, die darunter leiden. Ich glaube schon, dass ein Referendum wie in der Ukraine in Kasachstan dort, wo mehr Russen leben, mit einem Votum für den Anschluss an Russland ausgehen würde. Denn die Mehrheit der Russen würde gerne in Russland leben."
Kasachischer Nationalismus
Der wachsende kasachische Nationalismus zeigt, dass das seit 1991 unabhängige Land wie alle zentralasiatischen Republiken noch auf der Suche ist nach seiner Identität: Vor der Gründung der Sowjetrepublik Kasachstan hatten die hier lebenden Nomaden kein eigenes Staatsgebilde. Fast alle Städte sind russische Gründungen. Jessengul Kapkysy lebt in Almaty, dem früheren Alma-Ata, mit knapp zwei Millionen Einwohnern die größte Stadt Kasachstans. Die ehemalige Hauptstadt liegt ganz im Süden, nahe der Grenze zu Kirgistan, am Fuße der schneebedeckten Gipfel des Tien-Schan-Gebirges. Jessengul Kapkysy ist stolz, Kasachin zu sein. Den russisch-stämmigen Kasachstanern wirft sie vor, sich nicht anpassen zu wollen.
"Wenn ich in England leben würde und könnte die englische Sprache nicht, ginge das auch nicht. Doch bei uns arbeiten Leute in angesehenen Positionen, die nur die russische Sprache beherrschen. Wenn ich aber nur Kasachisch kann und kein Russisch, dann ist das das Ende meiner Karriere."
Nicht die Russen würden in Kasachstan diskriminiert, sondern umgekehrt die Kasachen im eigenen Land, meint Jessengul. Sie vertritt noch einen gemäßigten Nationalismus, heftiger geht es im Internet zu, im Schutz der Anonymität, wie in diesem Posting, dessen Verfasser sich auf die populistische Forderung des russischen Rechtsextremisten Schirinowski bezieht, Nordkasachstan Russland einzuverleiben:
"Liebe, verehrte Mitbürger Kasachstans, falls in unserem Land irgendeiner von Euch auch nur einen Ton von sich gibt oder auf einen Platz geht, um für die Spaltung Kasachstans zu werben oder Russland dazu aufzurufen, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen, werde ich, ganz persönlich, mich bewaffnen, notfalls mit einem Messer, und werde Euch alle niedermetzeln. Und Millionen andere werden es mir gleich tun! Kasachen sind keine Ukrainer, keine Europäer, wir sind geduldig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Ihr werdet es bereuen, wenn Ihr diese Geduld für Schwäche haltet!"
Dossym Satpayev beobachtet diese gegenseitigen Animositäten, über die offiziell nicht gesprochen wird, mit Sorge. Der renommierte Politologe ist Direktor der NGO "Risk Assessment Group" in Almaty.
"Ich glaube, es besteht ein großes Risiko, dass die nationale Karte politisch instrumentalisiert wird. Und am gefährlichsten wird es, wenn im Machtkampf um Nasarbajews Nachfolge ein Teil der Eliten von dieser nationalistischen Stimmung zu profitieren versucht, um ihre Position zu verbessern. Dann könnte hier in Kasachstan das Gleiche passieren, wie in der Ukraine."
Und nicht nur den inneren Frieden zwischen Kasachen und Russen sieht Satpayev bedroht, sondern - trotz der neuen Eurasischen Wirtschaftsunion - auch die staatliche Souveränität:
"Ich denke, dass die Methoden, die Russland benutzt hat, um die separatistische Stimmung in Georgien und in der Ukraine anzuheizen, auch in Kasachstan anwendbar wären. Es gibt ein Risiko. Auf jeden Fall!"