Wenn man stark vereinfacht, kann man sagen: Es gibt im menschlichen Gehirn zwei Gruppen von Nervenzellen. Gruppe eins regt ihre Nachbarzellen zu mehr Aktivität an. Gruppe zwei bremst die Aktivität ihrer Nachbarn. Beide Gruppen, die Aktivierer und die Bremser, halten sich gegenseitig die Waage. Einige Forscher glauben inzwischen, dass bei Menschen mit Autismus genau dieses Gleichgewicht gestört ist. Demnach gibt es in ihrem Gehirn zu viele Aktivierer und zu wenige Bremser. Neue Argumente für dieses Konzept kommen jetzt aus Seattle. Todd Scheuer und seine Kollegen von der Universität von Washington gaben Versuchsmäusen, die typische Autismus-Symptome zeigten, sogenannte Benzodiazepine. Das sind Medikamente, die als Angstlöser und Schlafmittel bekannt sind, und von denen man weiß, dass sie die Gruppe der Bremser im Gehirn unterstützen.
"Wenn wir eine normale Maus mit einer fremden Maus zusammenbringen, dann gehen sie aufeinander zu und beschäftigen sich miteinander. Unsere Mäuse dagegen meiden Artgenossen und ziehen sich zurück. Wenn wir ihnen aber Benzodiazepine geben, interessieren sie sich plötzlich doch für andere Mäuse."
Nicht nur der soziale Kontakt normalisierte sich, die Mäuse waren mit Medikament auch weniger hyperaktiv und lernten leichter. Allerdings, und das hat die Forscher überrascht, funktionierte das nur bei relativ niedrigen Dosen. Gaben die Forscher zu viel des Medikaments, war der positive Effekt verschwunden.
"Wir haben genau getestet, welche Dosis was bewirkt. Übertragen auf den Menschen braucht man nur etwa ein Zehntel dessen, was bei Panikattacken oder Schlafstörungen gegeben wird. Die Dosis ist so niedrig, dass die Tiere davon weder träge noch schläfrig wurden."
Keine Schläfrigkeit, das ist natürlich ein Vorteil. Gleichzeitig aber wird es schwieriger, die richtige Dosis zu finden, wenn die Spanne zwischen "noch zu wenig" und "schon zu viel" so eng ist. Ihre Studie sehen die Forscher deshalb nur als einen ersten Schritt.
"Mit der Zeit, wird man sicher bessere Medikamente finden, die auf ähnliche Art, aber noch spezifischer wirken. Bisher haben wir noch nicht einmal wirklich verstanden, warum die Benzodiazepine auf die Mäuse so wirken, wie sie wirken."
Heikel ist außerdem, dass die Benzodiazepine, die zurzeit auf dem Markt sind, relativ häufig und schnell abhängig machen können. Deshalb werden sie nur für kurze Zeit verschrieben und ihre Wirkung wird im Idealfall engmaschig kontrolliert. Dazu kommt, dass diese Medikamente bisher fast nur Erwachsene bekommen, Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen gibt es kaum. Als Mittel gegen Autismus müssten die Medikamente dagegen früh und über längere Zeit gegeben werden. Ob das Risiko einer Sucht geringer ist, weil die Dosierung niedriger wäre, ist nicht klar. In einem ersten Test scheint es so, als würden die Tiere im Experiment nicht abhängig. Todd Scheuer:
"Wir haben geprüft, ob die Wirkung des Medikament mit der Zeit nachlässt, das wäre typisch für den Beginn einer Sucht. Wir fanden aber, dass die Wirkung mit der Zeit sogar stärker wurde."
Dennoch braucht es weitere Tests an Mäusen, und viel Vorsicht, wenn die Medikamente bald in einer klinischen Studie an Patienten getestet werden sollen. Trotz all dieser Einschränkungen hält Kevin Pelphrey von der US-Universität Yale den Ansatz für vielversprechend.
"Ich glaube, die Kollegen sind da etwas sehr Interessantem auf der Spur. Man muss bei Mausstudien zwar immer vorsichtig sein. Autismus gibt es nur beim Menschen. Was wir also bei den Mäusen sehen, ist beim Menschen nicht unbedingt genauso. Wirklich spannend wird es deshalb, wenn es erste Ergebnisse aus der geplanten klinischen Studie gibt."
Die klinische Studie, von der Pelphrey spricht, wird gerade vorbereitet, Ergebnisse werden für Ende 2014 erwartet. Getestet wird ein Benzodiazepin, das das Pharmaunternehmen Astra-Zeneca entwickelt hat und das bisher noch nicht auf dem Markt ist.