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Autisten haben "herausragendes analytisch-logisches Denkvermögen"

Das Unternehmen SAP will Hunderte Autisten wegen ihrer besonderen Fähigkeiten einstellen. Die Softwareberatung Auticon beschäftigt seit mehreren Jahren Autisten. Sie besäßen eine besondere Detailgenauigkeit, sagt Geschäftsführer Dirk Müller-Remus.

Dirk Müller-Remus im Gespräch mit Benjamin Hammer |
    Benjamin Hammer: Wenn es um Menschen mit Autismus geht, dann haben die meisten von uns relativ wenig Kenntnisse. Da ist es bezeichnend, dass sich viele an "Rain Man" erinnern, ein Film, der bereits 25 Jahre alt ist. Die Wirtschaft setzt sich mit Autisten aber seit Jahren auseinander, denn sie bringen Fähigkeiten mit, die für Unternehmen sehr wertvoll sein können. SAP, das Software-Unternehmen, das für komplizierte Zahlencodes steht, will in den nächsten Jahren erreichen, dass ein Prozent seiner Mitarbeiter Autisten sind. Das wären dann 650. Was bedeutet so ein Schritt für ein Unternehmen? Der Mann, der das wissen muss, heißt Dirk Müller-Remus. Er betreibt in Berlin die Softwareberatung Auticon und beschäftigt fast ausschließlich Menschen mit Autismus, und mit ihm sind wir jetzt per Telefon verbunden. Guten Tag, Herr Müller-Remus.

    Dirk Müller-Remus: Ja guten Tag!

    Hammer: Wie kommt man auf die Idee, in einem Softwarehaus Autisten einzustellen?

    Müller-Remus: Bei mir hat das einen persönlichen Hintergrund. Ich habe vier Kinder und eines davon wurde vor sechs Jahren mit dem sogenannten Asperger-Syndrom – das ist die milde Form des Autismus – diagnostiziert. Das ist meine persönliche Motivation.

    Hammer: Was bedeutet das für die Arbeit? Was machen Ihre autistischen Angestellten und vor allem was machen sie besser?

    Müller-Remus: Unsere autistischen Mitarbeiter – wir nennen die auch Consultants, weil wir ein IT-Consulting-Unternehmen sind – testen Software, Software, die von der Softwareindustrie produziert wurde, und die braucht ja nun oftmals noch mal einen Quercheck, und den liefern wir.

    Hammer: Was können Autisten besser? Können Sie uns beschreiben, was für Aufgaben die dort verrichten und warum sie das besser können?

    Müller-Remus: Manchmal geht es auch darum – ich weiß nicht, ob Sie sich damit auskennen, aber Softwarecode muss ja manchmal Zeile für Zeile überprüft werden, ob es bestimmten formalen Richtlinien genügt, und unsere Mitarbeiter sind einfach in der Lage, diese hoch komplexen Source-Codes sehr schnell zu verstehen und auch zu analysieren, und das ist eine der Aufgaben, die unsere Mitarbeiter erledigen. Was dabei auffällt und was auch das Kunden-Feedback betrifft: Es wird immer wieder hervorgehoben die besondere Detailgenauigkeit, das herausragende analytisch-logische Denkvermögen und besondere visuelle Fähigkeiten. Das sind die Dinge, die Autisten definitiv besser können als andere. Vielleicht können wir noch ergänzen: Wir sind ja üblicherweise Multitasker. Das heißt, wir machen sehr viele Aufgaben nebenher, und Autisten haben die Angewohnheit, dass sie sequenziell arbeiten, das heißt eins nach dem anderen, das aber mit einer hundertprozentigen Konzentration. Das wirkt sich dann auch auf die Qualität aus.

    Hammer: Jetzt habe ich rausgehört, dass Ihre Mitarbeiter auch rausgehen zu den Kunden. Sie haben von den besonderen positiven Fähigkeiten gesprochen. Wo ist es denn vielleicht schwierig, vielleicht im sozialen Bereich?

    Müller-Remus: Ja. Das Problem bei Asperger-Autisten ist ja, dass nur etwa fünf Prozent überhaupt auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind, obwohl wir beispielsweise wissen, dass unsere Bewerber – wir haben 200 Bewerbungen mittlerweile bekommen von Asperger-Autisten – die Hälfte hat ein Studium absolviert. Das heißt, wir haben hier Leute mit einem sehr hohen intellektuellen Potenzial. Das ist schon ein Zeichen, dass wir hier nicht von Behindertenwerkstätten reden, sondern von Leuten, die wirklich im Arbeitsprozess ganz stark eine gute Leistung bringen können für den Arbeitgeber.

    Hammer: Noch mal nachgehakt: Was sind die Herausforderungen im sozialen Bereich?

    Müller-Remus: Insbesondere die soziale Interaktion und Kommunikation. Es ist eben das Problem bei Autisten, dass die anders reagieren auf bestimmte Sachverhalte, wie wir es gewohnt sind. Beispielsweise ein Asperger-Autist kommt zum Team-Meeting zu spät und dann sagt der Chef zu ihm. "Na, schon mal auf die Uhr geguckt", und dann sagt der Asperger-Autist im Zweifelsfall "Ja", und das ist ein Beispiel, wo dann der Chef sich natürlich provoziert fühlt und ein Missverständnis folgt dem nächsten, und wenn das öfter passiert, kann das oftmals in eine Kündigung münden. Diese Probleme sind so massiv, dass vielen es einfach nicht gelingt, überhaupt im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das heißt, unsere Mitarbeiter haben wir allesamt aus Hartz IV geholt, allesamt.

    Hammer: Jetzt haben wir über Software gesprochen. Was sind andere Bereiche, in denen Autisten gut und gerne arbeiten könnten und, wenn ich das richtig einschätze, dann auch aus so einem Status wie zum Beispiel Hartz IV geholt werden könnten?

    Müller-Remus: Da gibt es eine Besonderheit, wiederum bei Asperger-Autisten. Asperger-Autisten haben in der Regel ein besonderes Spezialinteresse, und im Spezialinteresse, in diesem Gebiet kennen die sich hundertprozent aus. Das heißt, da sammeln die ein Wissen an, was weit über das hinausgeht, was wir unter Hobby verstehen. Wir suchen nun ganz gezielt Leute mit Spezialinteresse IT, weil es eben zu unserem Geschäftsfeld gut passt. Wir wissen aber, dass nur etwa 15 Prozent der Asperger-Autisten sich überhaupt für IT interessieren. Das heißt, wir erreichen 85 Prozent gar nicht, denn die Spezialinteressen sind sehr weit verstreut. Man kann sagen, die meisten haben Interessen im naturwissenschaftlich-mathematischen Bereich, IT gehört auch dazu. Aber was wir auch festgestellt haben, dass viele sehr sprachbegabt sind. Wir haben hier Bewerber gehabt, die konnten sechs, sieben Sprachen perfekt. Und was auch auffiel, dass viele im musischen Bereich sehr hohe Begabungen aufweisen. Das sind Felder, die zukünftig auch genutzt werden können.

    Hammer: Autisten in IT-Unternehmen, ein neuer Trend – ein neuer Trend mit einem Fragezeichen. Das ist wichtig dabei, weil wir gehört haben, Herr Müller-Remus, dass es natürlich schon seit Jahren solche Unternehmen wie von Ihnen gibt. Vom Berliner Softwarehaus Auticon war das Dirk Müller-Remus. Danke schön!

    Müller-Remus: Danke auch. Auf Wiederhören!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.