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Autobiografie
Immer wieder Heimweh nach der DDR

Ob Helga M. Novak zu sozialistisch für die DDR war, sei dahingestellt. Zu individualistisch und etwas zu idealistisch war die Schriftstellerin allemal. Im nun posthum erschienenen dritten Teil ihrer Autobiografie legt sie Rechenschaft ab - vor allem gegenüber sich selbst.

Von Katrin Hillgruber |
    Eine Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt ein Porträt der Schriftstellerin Helga M. Nowak.
    Helga M. Novak (eigentlich Maria Karlsdottir) 1971: "Intelligent" und "hübsch", stellte die Stasi 14 Jahre zuvor fest. (picture-alliance / dpa)
    Sie war eine auffallende Erscheinung, die junge Frau ganz in Schwarz, damals im Roten Kloster. So nannte der Volksmund die Fakultät für Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig, die zentrale Ausbildungsstätte für Journalisten in der DDR. Nach dem Besuch eines Eliteinternats hatte die 19-jährige Helga Maria Novak im Jahr 1954 voller Enthusiasmus das Studium an dieser Kaderschmiede aufgenommen. Sie wollte Feuilletonredakteurin werden und konnte, wie alle anderen Absolventen des streng reglementierten Studiengangs, auf die Erfüllung ihres Berufswunsches hoffen, zudem sie auch früh SED-Mitglied wurde. Neben den Leipziger Medizinstudenten galten die angehenden Journalisten als Vorreiter für die sogenannte Jugend in Waffen, denn damals wurden die Betriebskampfgruppen allmählich in die Nationale Volksarmee umgewandelt. Bloß, was hatte das mit der 19-Jährigen zu tun? Enttäuscht musste Helga M. Novak feststellen, dass sie kaum Zugang zu Zeitungen und Zeitschriften hatte, nicht einmal zu denen der sozialistischen Bruderländer. Dafür lernte sie ausgiebig die paramilitärische Erziehung kennen:
    Nicht einmal in Augenblicken tiefster Überzeugung, wir würden ein anderes Deutschland aufbauen, gekrönt von einem Sozialismus, der uns Wohlergehen, Gerechtigkeit und unwiderrufliche Freiheiten brächte, konnte mir irgendjemand weismachen, dass Drill, Exerzieren, Stechschritt, Waffenkunde, Zielschießen und Nachtmärsche unsere Verteidigung stärken würden. Ich glaubte auch nicht einen Tag lang, der Westen würde uns angreifen. Wozu also diese militärischen Übungen? Ging es dem Staat nicht nur darum, uns zu ermüden und anzuöden, uns Zeit und Konzentration zu stehlen, damit wir nicht zum Nachdenken kamen? Bei Licht besehen, wurde uns jede Kampfkraft ausgetrieben. Wir sollten nicht mal die Energie entwickeln, die für den Alltag benötigt wird.
    Hier offenbarte sich früh eine unbedingte Individualistin, eine dem sozialistischen Ideal anhängende Selbstdenkerin, die Begriffe wie "unentfremdete Arbeit" oder "Volkseigentum" wörtlich nahm. Sie hatte den Vorsatz, sich ins Kollektiv einzuordnen, wenn sie den Sinn darin erkannte. Diese Haltung erinnert an eine andere eigensinnige Glücksucherin aus der DDR: die Schlagersängerin Sunny, gespielt von Renate Krößner, aus Konrad Wolfs berühmtem subversiven Film "Solo Sunny" von 1979. Bei einem ihrer regelmäßigen Besuche bei der Tante Concordia in Köpenick, der Schwester ihres Stiefvaters, entdeckte Helga M. Novak zur Abwechslung eine Illustrierte aus dem Westen. Aus schwarzumrandeten Augen zwischen einem schwarzen Rollkragenpulli und einem ebenholzschwarzen Pony blickte ihr die französische Chansonsängerin Juliette Gréco entgegen. Nun gab es für die Studentin kein Halten mehr:
    So wollte ich auch aussehen, so wollte ich auch in einer Kneipe am Tresen stehen, so und nur so wollte ich die Zigarette halten und das volle Glas. Zuerst einmal aus Westberlin schwarze Textilfarbe holen. Dann, wieder in Leipzig, alle Pullover, Hemden, lange Hosen (enger gemacht) in einen, von einer jungen Mutter geborgten, Windeltopf gesteckt, Farbe rein und Wasser drauf und gekocht und gerührt und gekocht und gerührt und weiter gekocht. Wie nach '45 die Fallschirmseide, die wir in der Waschküche mit Pflanzenfarben in russischgrüne, ockerfarbene und ebereschenrote Kleider- und Wäschestoffe verwandelten.
    "Solidarisch im guten, wirklichen Wortsinn"
    "Im Schwanenhals" ist ein Protokoll des mitreißenden Lebenshungers. "Ich bin lebendig und in Bewegung", versichert sich die Icherzählerin auch in den schwierigsten Situationen, in die sie sich allerdings oft selbst gebracht hat. Als stolz und wie besessen auf Wahrheit beschrieb sie der DDR-Bürgerrechtler Jürgen Fuchs:
    Sie ist solidarisch im guten, wirklichen Wortsinn. Und aufsässig, allein mit dem, was sie kann. Sie lebt das anarchistische, rebellische Element, das immer wieder unter die Stiefel der Marschierer gerät. Und sich immer wieder aufrichtet.
    Lange war der Abschluss von Helga M. Novaks autobiografischer Trilogie erwartet worden. 1979 erschien der erste Band "Die Eisheiligen", in dem sich die 1935 geborene Autorin hauptsächlich mit ihrer Kindheit in der Kriegs- und Nachkriegszeit auseinandersetzte sowie mit ihren Adoptiveltern, Mitläufern im Dritten Reich wie in der DDR. Die herzlose Adoptivmutter taucht auch im neuen Buch nur unter der Chiffre "Kaltesophie" auf. Mit drei Tagen wurde Helga M. Novak von ihrer leiblichen Mutter in ein Kinderheim weggegeben. Ihr Vater, offenbar schwer depressiv, nahm sich 1937 das Leben. Das Gedicht "keine Mutter nährte mich" endet folgendermaßen:
    Heimat und Landstrich längst verloren / ganz ohne Vater immer schon / der sprengte seinen Kopf beizeiten / mit einem Schuss so bin ich frank und frei
    Die erschütternden Verlusterfahrungen der Kindheit dürften dazu beigetragen haben, dass Helga M. Novak die frühe DDR voller Enthusiasmus als ihre sozialistische Ersatzfamilie betrachtete, wie sie es in dem zweiten autobiografischen Band „Vogel federlos“ von 1982 so anschaulich beschreibt. Das auftrumpfende, zwischen Sarkasmus und Erleichterung schwebende "frank und frei" des zitierten Gedichts steht leitmotivisch für eine Schriftstellerin, deren Markenzeichen lakonische Wahrhaftigkeit und gelebte weibliche Autonomie sind. Leidtragende waren ihre beiden Kinder, wie sie offen zugibt. Sie wuchsen bei isländischen Pflegeeltern auf.
    Nichts machte mir mehr Angst als die Vorstellung, meine Kinder großziehen zu müssen. Gibt es nicht auch in der Tierwelt Beispiele, wo Mütter ihre Kinder nicht annehmen? Bin sicher, ich würde als Mutter an den beiden bloß Schaden anrichten. Hab bis heute nicht den blassesten Schimmer, was Mutterliebe ist.
    Rechenschaft gegen sich selbst
    An Heiligabend ist Helga M. Novak nach langer Krankheit in Rüdersdorf bei Berlin gestorben. Wie kam es dazu, dass sie zeitlebens eine kräftezehrende Existenz als immer aufs Neue fernwehkranke fahrende Sängerin führte? Warum kehrte sie trotz schlimmer Erfahrungen zweimal in die DDR zurück, die sie 1966 als erste Schriftstellerin ausbürgerte? Durch die Lektüre von "Im Schwanenhals" werden ihre Beweggründe plausibler. Novak lebte zweimal in Island, nach ihrer Ausbürgerung in Frankfurt am Main, dem früheren Jugoslawien, in der Tschechoslowakei und im Portugal der Nelkenrevolution, schließlich zwanzig Jahre in Polen. In peinlicher Ignoranz verwehrten 2004 die zuständigen Leipziger Behörden der kranken Dichterin den Zuzug als – wie es hieß - "erwerbslose Ausländerin". Das ist einer der unzähligen autobiografischen Bitterstoffe im Werk Helga M. Novaks. Dieses kann als schroffe poetische Heimatkunde und unversöhnlicher Rechenschaftsbericht sich selbst gegenüber verstanden werden.
    "Im Schwanenhals" setzt diese Rechenschaft höchst lebendig und spannend fort. Das Buch entstand in Zusammenarbeit mit der befreundeten Publizistin Rita Jorek und wurde nun zum Vermächtnis. Es ist genau fünfzig Jahre nach Novaks erstem Lyrikband erschienen, der den programmatischen Titel "ostdeutsch" trug. Sie publizierte ihn 1963 im Selbstverlag in Reykjavik. Die größtenteils handgeschriebenen Gedichte hatte sie im Koffer ins Land der Geysire mitgebracht. Später nannte die Freundin Sarah Kirsch sie scherzhaft "Islandschiff".
    Windstille. Ich stakte ziellos durch den knirschenden Schnee. Meine Zigarettenkippe blieb liegen, bis sie ausgeglüht war. Der Atem entfernte sich kaum von meinem Gesicht. Weit und breit kein Baum, kein Strauch. Ich war in ein Land ohne Wald geraten. Dafür begegnete ich zum ersten Mal dem Nordlicht.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Im kargen Island fühlte sich Novak wohl. (picture alliance / zb)
    Nach Island, in die nordwestlichste Ecke Europas, folgte die 22-jährige Helga M. Novak Hals über Kopf ihrem Kommilitonen Steinar. Der junge Isländer war mit einer Gruppe von Landsleuten als Gaststudent im Leipziger Roten Kloster immatrikuliert gewesen. Novak sollte die Isländer im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes beobachten, was sie diesen sofort schockiert berichtete. Leichtfertig hatte sie sich Monate zuvor als Kontaktperson "Renate" anwerben lassen. Die Verbindungsleute der Stasi gingen bei den angehenden Elite-Journalisten der DDR ein und aus. Daran erinnert sich auch Novaks Kommilitonin Brigitte Klump lebhaft. 1976 veröffentlichte sie den aufsehenerregenden Tatsachenbericht "Das Rote Kloster. Eine deutsche Erziehung", aus dem Novak zitiert. Über die erste Unterredung mit ihr vermerkte die Stasi-Bezirksverwaltung Leipzig am 19. September 1957:
    Bei der Kandidatin handelt es sich um eine fortschrittliche, unserem Staat gegenüber und der Partei verbundene Genossin. Sie ist sehr intelligent, hübsch und bringt Voraussetzungen mit, um in der besagten Form mit unserem Organ zusammenzuarbeiten. Aus Sicherheitsgründen erhielt sie auch einen Decknamen ("Renate"), und ihr wurde weiterhin die Telefonnummer eines Mitarbeiters übergeben. Die Aufgabe besteht darin, sie langsam an das für sie vorgesehene Aufgabengebiet heranzubringen.
    Für Helga M. Novak alias Renate hingegen handelte es sich um eine Erfahrung räumlicher und seelischer Klaustrophobie. Da sie ohne Angehörige war, fürchte sie die staatliche Willkür ganz besonders. Indem sie die verhängnisvolle Unterschrift leistete, wollte sie diesem Zwang entkommen.
    Seitdem der Zettel auf dem Tisch meiner Beglaubigung harrte, hatte ich keine Sekunde lang erwogen, die Abmachung zu verweigern. Ich saß da, abgeschnitten, eingeschlossen in einem Raum, den kaum einer kannte, wo niemand mich suchen würde und verfolgte nur noch das Ziel, die Zusammenkunft zu beenden und heil aus dem Sonderzimmer raus und an die frische Luft zu kommen. Ich gäbe auch zu, dass die Erde eckig ist, wenn ich dafür schneller die Türklinke erreicht hätte.
    Endlich kam ich raus. Danach war ich nicht mehr dieselbe. Außerdem hatte ich gerade diese Signatur unterschätzt, denn ich ahnte nicht, dass sie vom Staatssicherheitsdienst als Freibrief behandelt werden würde, um mich in eine Art Leibeigenschaft zu überführen. Ein Leben lang.
    Ein unglücklicher Journalist hemmt den sozialistischen Aufbau.
    Helga M. Novak glaubte, den Befehl, ihre isländischen Kommilitonen auszuspionieren, ignorieren zu können. Das erwies sich als fataler Irrtum. Am 11. November 1957 kulminierte der schwelende Konflikt zwischen der Obrigkeit und den renitenten Studentinnen Helga M. Novak und Brigitte Klump. Die Wahl- und Hauptversammlung der SED-Nachwuchsorganisation Freie Deutsche Jugend fand ausgerechnet in einem Hörsaal der Pathologie statt. Sie geriet zu einem Purgatorium.
    Heiter und nichts Böses ahnend, die Stasi hatte mich in letzter Zeit völlig in Ruhe gelassen, ging ich mit Steinar zu dem FDJ-Plenum. Aus allen Richtungen strömten meine Kommilitonen zur Neuen Anatomie. Über dem Eingang las ich den Spruch: HIC GAUDET MORS SUCCURRERE VITAE – Hier freut sich der Tod dem Leben zu helfen. – Ach so! Ich dachte nicht weiter darüber nach.
    Die Versammlung beschloss, dass eine sogenannte Erziehung der Studentinnen Novak und Klump nötig sei, da sie sich der gesellschaftlichen Arbeit entzogen hätten. Ihre Stipendien würden neu festgesetzt und sie sollten sich ein Jahr lang in der Produktion bewähren. Helga M. Novak hörte noch, wie einige derer, die sie für ihre Freunde hielt, mitgrölten, sie sollten unbefristet in die Produktion. Dann begann sich alles um sie herum zu drehen; sie wollte nur noch weg aus der Anatomie. Am Roten Kloster unterrichtete damals der noch linientreue Dozent und spätere Lyriker Reiner Kunze. Im Zuge einer großen Säuberungsaktion ermahnte er die Studenten:
    Ein unglücklicher Journalist hemmt den sozialistischen Aufbau. Ein unglücklicher Mensch in unserem Beruf ist ein Klotz am Bein des Sozialismus.
    Nach diesem Vorfall, den sie als Zugriff auf ihr ganzes Leben empfand, änderte sich für Helga M. Novak schlagartig alles. Überstürzt brach sie mit ihrem Freund Steinar nach Island auf, wo sie aber bald schon heimwehkrank das "Neue Deutschland" las. Sogar die studentischen Arbeitseinsätze im Braunkohlewerk vermisste sie.
    Ein "Sagenaufschreiber und mittelalterlicher Seefahrer"
    Wie wollten zwei junge Menschen einander verstehen, die sich fremder nicht sein konnten?! Mein Kopf noch voller Krieg, Bombenkeller, Russeneinmarsch, Ruinen, Hungerperiode. Und mit fünfzehn ausgerissen von zu Hause, fortan jeden Schritt vorwärts alleine, selber entscheidend, ohne jede Rat gebende Hilfe. Steinar dagegen? Ein bäuerlicher Nachkomme isländischer Landnehmer, Sagenaufschreiber und mittelalterlicher Seefahrer.
    Nach nur vier Monaten kehrte sie schwanger nach Ost-Berlin zurück. Nun war sie offenbar zu jener Selbstkritik bereit, die sie in Leipzig vor dem FDJ-Plenum verweigert hatte. Die Behörden erlauben ihr, als Bandarbeiterin in einer Fabrik für Funk- und Fernsehtechnik in Oberschöneweide anzufangen. Berlin durfte sie aber nicht verlassen. Doch dann kontaktierte die Stasi sie erneut – diesmal sollte sie die sympathische Laborleiterin aushorchen. Daraufhin kehrte sie mit einem anderen isländischen Studienfreund namens Örn dem Kontinent den Rücken. Zurück in Island, heirateten sie und Örn. Sie bekam ein zweites Kind und salzte voller Begeisterung saisonweise Heringe ein. Auch in ihrer Lyrik dominieren schroffe Eindrücke aus isländischen Fisch-Konservenfabriken und anderen martialischen Arbeitswelten, Verhöre in ostdeutschen Linoleum-Amtsstuben und immer wieder die spröde Mark Brandenburg, die Pegasus für seine Traumtänze mit Klumpfüßen bestraft, wie es im Gedicht mit dem Titel "Wo der Windbruch verrottet" heißt: Novaks erzählende Lyrik erfüllt in ihrer artistischen Redlichkeit eine Forderung von Peter Waterhouse nach der Selbstüberprüfung des Gedichts: Steht es noch in einem Verhältnis zur Wirklichkeit?
    Mit einem dritten Isländer, diesmal einem Bohémien und Dichter, fuhr sie nach Sizilien; die Reise endete in bitterster Armut. Doch dann erschien endlich ihr Gedichtband "ostdeutsch" unter dem Titel "Die Ballade von der reisenden Anna" bei Luchterhand in Neuwied. In der Lyrikerin Elisabeth Borchers fand sie eine ideale Lektorin. Trotzdem zog sie das Heimweh erneut in die DDR zurück. 1965 immatrikulierte sie sich am Literaturinstitut Johannes-R.-Becher in Leipzig, probeweise. Georg Maurer war ihr Professor für Lyrik.
    Ich hab erzählt. Alles, wie es wirklich war. Auch, dass ich eine Einladung zu Luchterhand hatte. Alle kannten natürlich den Verlag, Günter Grass und die Gruppe 47. Selbst wenn sie im Osten immer taten, als ginge sie das nichts an, waren sie doch informiert. Und interessiert. Es schien eine große respektable Tauwetterperiode angebrochen zu sein. Das hatte ich schon richtig gerochen, und da bin ich rein in den Schlitz. Im Laufe meines Lebens fand ich so manche Lücke, in Polen oder Rumänien, und kam später durch mit meinem isländischen Pass. Alle Systeme haben Löcher. Und wer dafür eine Nase besitzt, kommt unter Umständen weit, fällt dann natürlich auch drauf, auf die Nase.
    Erotik des Unterholzes
    So geschah es. Helga M. Novak befreundete sich mit dem Regimekritiker Robert Havemann und eckte am Literaturinstitut immer stärker an. Eine Anthologie isländischer Lyrik, die sie im Leipziger Reclam-Verlag herausgeben sollte, wurde gestoppt. Sie wurde zum zweiten Mal exmatrikuliert, erhielt ein Ausreisevisum und durfte den Boden der DDR nicht mehr betreten, bis zum November 1989. Das Land ihrer Herkunft hatte sich nun endgültig als Schwanenhals entpuppt. So werden in der Jägersprache jene brutalen Fangeisen genannt, aus denen sich die Tiere lebend nicht befreien können.
    "Wie Abreise und Heimkehr überleben und deren Wiederholbarkeit?" heißt es im "Monolog eines Buchhändlers" aus Helga M. Novaks Prosaband "Aufenthalt in einem irren Haus": Auf diese Frage fand sie zeitlebens keine Antwort. Als das Buch 1995 in einer zweiten Version erschien, lebte sie in Polen, in der Tucheler Heide. Diese pommersche Waldlandschaft glich der Mark Brandenburg ihrer Kindheit. Novak, den "Bäumen treu wie ein Hund", ist vor allem in ihrem wunderbaren Buch "Silvatica" als Mystikerin des Waldes zu erleben, als Meisterin einer herben, in Jägerlatein operierenden Erotik des Unterholzes. Schließlich waren es die Bäume, die sie in Island am meisten vermisste, besonders die Kastanien.
    Zuletzt wohnte Helga M. Novak in Erkner bei Berlin, wurde dort sogar Ehrenbürgerin. Das ist nicht zuletzt dem Engagement des Frankfurter Schöffling-Verlags zu verdanken, der ihr Gesamtwerk hervorragend betreut. Direkt, unverstellt, widerständig – Helga M. Novaks Ton, ob in der Prosa oder im Gedicht, hatte Seltenheitswert in der deutschen Gegenwartsliteratur.
    Jahre später war ich ganz allein in Chicago. Ich hatte den Westen in mir und für mich ganz privat besiegt. Hat mir keiner geholfen. Nach zwölf Jahren Frankfurt konnte ich nach Berlin, nach fünf Jahren Berlin konnte ich, was ich immer wollte, in den Osten zurück. Meine erste Parteistrafe erhielt ich mit achtzehn für Titoismus, wurde fünf Jahre später das erste Mal außer Landes gedrängt und dann immer wieder verjagt. Aber ich habe mir meine eigene unsentimentale weibliche Form von Heimweh bewahrt.
    Buchinfos:

    Helga M. Novak: "Im Schwanenhals", Schöffling & Co, Preis: 21,95 Euro